Regisseurin Evelyne Faye
„Man muss sich eigene Vorbilder schaffen“
In der Dokumentation „Lass mich fliegen“ begleitet Regisseurin Evelyne Faye vier Menschen mit Down-Syndrom. Dabei zeigt sie, mit welchen gesellschaftlichen Hürden und Vorurteilen diese in ihrem Alltag immer noch zu kämpfen haben. Vergangene Woche wurde der Film im Margaretner Filmcasino gezeigt, im Juni gibt es vier Kino-Vorführungen im 1. und 7. Bezirk. Die BezirksZeitung traf die Regisseurin zum Interview.
WIEN/INNERE STADT/MARGARETEN/NEUBAU. Raphael, Johanna, Andrea und Magdalena - das sind die Protagonistinnen und Protagonisten des Films "Lass mich fliegen". Vier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die doch eines eint: Sie alle haben das Down-Syndrom und werden tagtäglich mit Vorurteilen und gesellschaftlichen Hindernissen konfrontiert.
Regisseurin Evelyne Faye wollte das nicht mehr länger hinnehmen. Als Mutter eines Kindes mit Trisomie 21 räumt sie in ihrer Dokumentation mit Klischees und Stereotypisierungen auf und holt Betroffene auf die Kino-Leinwand. Diese ergreifen im 80-minütigen Film selbst das Wort und zeigen Szenen aus ihrem Alltag.
Die BezirksZeitung traf die gebürtige Französin Evelyne Faye zum Interview. Darin spricht sie über die defizitorientierte Sichtweise auf das Down-Syndrom, die enttabuisierende Wirkung des Humors und über jene Person, der dieser Film gewidmet ist: Tochter Emma Lou.
BezirksZeitung: Lass mich fliegen ist Ihr erster Film. Wie haben Sie den Prozess des Filmemachens empfunden?
Evelyne Faye: Es war sehr aufregend und ein großes Abenteuer. Nach den passenden Protagonistinnen und Protagonisten zu suchen, hat mir großen Spaß bereitet - es war einfach eine riesige Auswahl da. Dass mir diese ihr Vertrauen geschenkt, mir ein Stück ihres Alltags gezeigt haben und ich sie begleiten durfte, ist immer noch eine große Ehre für mich. Mir war wichtig, die Personen kennenzulernen und auch zu schauen, was für sie von Bedeutung ist. Ich wollte, dass sie in dem Film ihre eigene Stimme haben und niemand für sie spricht. Sie sollten diesen Raum voll und ganz einnehmen können und ich bin sehr glücklich, dass sie mit diesem Film die Plattform Kino erobern.
Wie sind Sie bei der Auswahl der Akteurinnen und Akteure vorgegangen?
Die Wiener Protagonistinnen und Protagonisten habe ich durch die Tanzgruppe „Ich bin O.K.“ kennengelernt, weil dort auch meine Tochter tanzt. Eigentlich war es richtig einfach, mögliche Personen kennenzulernen. Es war mehr die Frage, wer Lust darauf hat, seine Geschichte zu erzählen.
Wie viel Zeit hat die Produktion des Films in Anspruch genommen?
Die Dreharbeiten haben etwa ein Jahr gedauert, aber insgesamt war es ein längerer Prozess. Man muss zunächst einige Förderungen einreichen, dann kam auch Corona dazwischen. Insgesamt hat die Filmproduktion vier bis fünf Jahre gedauert.
Welchen Herausforderungen sind Sie dabei begegnet?
Corona war wirklich die größte Herausforderung, weil man nicht wusste, wann man wieder etwas planen oder drehen kann. Vor allem war es für die Protagonistinnen und Protagonisten schwer. Sie konnten nicht arbeiten und sollten auch ihre Wohnung nicht verlassen, da sie zur Risikogruppe zählen. Ich habe überlegt, ob ich Corona in die Geschichte einbauen und zeigen soll, wie sehr Menschen aus der Risikogruppe unter der Isolation gelitten haben. Dass sie ihr Zuhause nicht verlassen sollten, war ein ziemlicher Schlag für einige der Protagonistinnen und Protagonisten, das hat man auch an den Gemütern gemerkt.
Warum haben Sie den Film Ihrer Tochter gewidmet?
Aus mehreren Gründen – ich möchte ihr zeigen, dass ich Dinge tue, die mich bewegen. Dass ich mich das traue, obwohl es Angst machen kann. Wenn man ein Kind mit einer Diagnose auf die Welt setzt, merkt man von Beginn an, dass der Weg sehr stark von defizitorientierten Anweisungen, Blicken und Prognosen geprägt ist. Dann muss man sich eigene Vorbilder schaffen. Eine Motivation für den Film war, dass ich ihr und mir zeige, was alles möglich ist. Es gibt Kraft, wenn man sieht, wie die Protagonistinnen und Protagonisten Raum einnehmen - auch, wenn sich meine Tochter ganz eigenständig entwickeln wird.
Was konnten Sie durch den Film Neues lernen?
Ich habe vieles gelernt. Parallel habe ich zum Beispiel mit dem Professor André Frank Zimpel von der Universität Hamburg gearbeitet. Er hat das Buch „Was wir von Menschen mit Trisomie 21 lernen können“ geschrieben. Durch diesen Austausch sind mir sehr viele Dinge bewusster geworden. Etwa, dass man die Leistung von Menschen mit Beeinträchtigung viel mehr schätzen und würdigen sollte. Wenn sie Dinge tun wie jeder andere auch, dann kostet sie das viel mehr Energie als Menschen ohne Beeinträchtigung. Man sollte einfach sehen, was sie alles schaffen und wie heldenhaft sie sind. Wenn man sich nur auf die Defizite orientiert, sieht man das allerdings nicht.
Wie kann man Vorurteile gegenüber Menschen mit Down-Syndrom abbauen?
Indem man sie kennenlernt. Der Film zeigt das auch: Sobald man hinter das Klischee, hinter das Stereotyp schaut, entdeckt man eine so bereichernde und inspirierende Welt. Man bemerkt, dass man im Endeffekt so viele Gemeinsamkeiten hat. Das gilt für alle Etikettierungen, die man Menschen aufgrund gewisser Identitätsmerkmale gibt. Diese sind jedoch oft so weit weg von der Wirklichkeit. Es sollte allen bewusst sein, dass es sich lohnt, Leute kennenzulernen, bevor man über sie urteilt.
Welche Rolle spielt Humor in Ihrem Film?
Ich wollte das Schubladendenken mit Humor aufbrechen. Im Film werden wichtige Themen mit Leichtigkeit und auf humorvolle Art angesprochen. Das hat eine enttabuisierende Wirkung. Man kann über das Anderssein reden, ohne dass es bedrückend ist. Es zählt zur Diversität und Vielfalt unserer Welt und das ist schön.
Der Filmtitel „Lass mich fliegen“ ist ein Zitat aus einem Gedicht der Protagonistin Magdalena. Warum beschreibt dieses den Film so gut?
Wir haben sehr lange nach Titeln gesucht. Dieses Zitat beschreibt den Film so gut, weil hier jemand aus marginalisierter Perspektive gesprochen hat. Und das mit einer so poetischen, berührenden Sprache, die man nicht erwartet. Es geht darum, sich von dieser vielfältigen Welt verblüffen und verzaubern zu lassen, in dem man mit den Klischees bricht. Die Symbolik des Fliegens ist für mich ein sehr schönes Bild. Es zeigt, dass jeder stark ist und wir alle wunderschöne, einzigartige Wesen sind - gerade durch unsere Unterschiede.
Was ist Ihnen noch wichtig, zu erwähnen?
Was uns die Protagonistinnen und Protagonisten als Geschenk mitgeben, ist das Reflexion darüber, wie man sich selbst betrachtet. Diese Menschen schaffen es, trotz einer eher negativen Fremdwahrnehmung so eine positive, starke Selbstwahrnehmung zu haben. Sie zeigen damit, dass sich jeder Mensch als schön, stark und cool sehen und nicht so sehr auf kleine Imperfektionen achten sollte. Oft unterschätzt man Personen, die man nicht kennt und gibt ihnen eine Identität, die nicht ihre ist. Wenn wir diese Etikettierungen ablegen und uns öffnen, können wir voneinander so viel lernen. Besonders in der digitalen Welt ist das meiner Meinung nach eine schöne Erinnerung.
Spielzeiten
Neubau:
Samstag, 3. Juni um 16:15 und Montag, 5. Juni um 18:30 im Filmhaus Kino am Spittelberg (Spittelberggasse 3)
Innere Stadt:
Sonntag, 4. Juni um 15:45 im Actors Studio (Tuchlauben 13)
Montag, 12. Juni um 18:30 im Metro Kinokulturhaus (Johannesgasse 4); inkl. Gespräch mit der Regisseurin und „Gewächshaus – Verein zur Förderung von Diversität im Film“
Mehr Infos zum Film gibt es hier.
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