Viertel vor sieben
Erinnerung ist das einzige Paradies,
aus dem wir nicht vertrieben werden können.
(Jean Paul)
Hoffentlich haben Sie sich in den vergangenen beiden Sommermonaten (auch wenn der Sommer nicht immer da gewesen zu sein schien) erholt und starten gestärkt in den Herbst. Das letzte Drittel dieses Jahres liegt vor uns. Und immer wenn Schulbeginn ist, immer wenn der Herbst vor der Tür steht -- da keimen Sie in mir auf. Wehmütige Erinnerungen an meine eigene Kindheit. Eine Kindheit, die musikalisch all die Jahre von der Musik des wunderbaren Liedermachers Reinhard Mey untermalt wurde… (danke Mama und Papa :-) )
Kennen Sie sein Lied “Viertel vor sieben”? Dieses Lied berührt mich besonders, denn es weckt die Sehnsucht nach einer Zeit, die viel zu oft in den unwegsamen Tiefen meines Herzens vergraben ist, lässt vergessen geglaubte Erinnerungen wach werden.
Sehnsucht nach einer unbeschwerten Zeit, in der ich so sorglos und fröhlich in den liebevollen Schoß meiner Eltern und Großeltern eingebettet war. Bilder aus vergangenen Zeiten, die Schnappschüssen gleichen, ziehen an mir vorbei und leise Wehmut macht sich breit.
Meine Kindergartenzeit: Im Vorraum des Kindergartens hängt meine kleine rote Tasche, auf die ich so stolz bin. Und in der Luft liegt diese Mischung aus müffelnden Hausschuhen, Schulbroten, angeschlagenen Äpfeln und Bananen… Fangenspiel auf der Terrasse, die Jausenpause - voller Vorfreude auf das Pariserkipferl, das morgens mit Mama gemeinsam bei Anker gekauft worden war… Dann ein anderes Mal: Ein Ausflug an einen Ort, an den ich mich nur schemenhaft erinnere. Lachende Kinder laufen durch den Wald, pflücken Schneeglöckchen und sind so unglaublich frei… Das erste Mal Drachen steigen mit Papa, der erste, von Mama in den Ferien rosa lackierte kleine Fingernagel…
Mein erster Schultag: Im Arm eine bunte Schultüte und ein voller Hoffnung und Vorfreude auf das Ungewisse überschäumendes Herz. Jener Tag, dem ich bereits wochenlang, ja monatelang entgegengefiebert hatte. Die unbändige Freude über das erste Heft, die erste Füllfeder, den ersten Buchstabensetzkasten, das erste goldene Sternchen von der Frau Lehrerin. Winterzeit, Rodelzeit, Zeit der Eisträume… Wir bauen im Hof Iglus und Schneemänner, ein Bauer hängt unsere Schlitten an seinen Traktor… Schneeballschlacht, weiße Kristalle im Halsausschnitt, die eisig den Rücken hinab rinnen. Und dann müde und glücklich nach Hause kommen. Kribbelnde Finger und Zehen von der Wärme. Du sitzt bei Oma und Opa in eine kuschelige Wolldecke gehüllt beim Tisch und lässt dir Omas Eiernockerln schmecken, die später nie wieder so gut schmecken werden, und berichtest von deinen Abenteuern.
Die erste zarte Liebe in der Volksschule, ein verlegen genuscheltes „Ich liebe dich“ deines Sandkastenfreundes, das dir so peinlich ist, dass du verschämt grinst. Verstohlen ausgetauschte Busserln, Hand in Hand barfuss durch die Wiese laufen, die nass an deinen Fußsohlen kitzelt.
Manchmal wünscht’ ich, es wär’ noch mal viertel vor sieben und ich wünschte ich käme nach Haus…
Der erste Zauberwürfel, die erste Dauerwelle, die ersten gestochenen Ohrläppchen, die erste Zahnspange, die erste wirklich große Liebe, die erste Enttäuschung, das erste Mal, dass jemand dein Herz bricht, das erste Mal, dass du jemandem das Herz gebrochen hast, der erste Verlust…
Und du wirst älter, das unbezwingbare Rad des Lebens rollt weiter und weiter und plötzlich begreifst du, dass deine Kindheit und Jugend nun wirklich vorüber ist. Scheinbar über Nacht bist du erwachsen geworden. Und an manchen Tagen droht alles, was einmal war, unwiederbringlich in die Tiefen des Meeres hinabzusinken und sich im Sand des Vergessens einzugraben.
Und du erkennst, dass dein Fell tatsächlich von Jahr zu Jahr, von Enttäuschung zu Enttäuschung, von Verlust zu Verlust dünner geworden ist und du fühlst dich wie ein räudiger Hund, der durch die Nacht streift und seine Angst und Traurigkeit dem Mond entgegenheult. Doch dann blickst du ihn zum ersten Mal genauer an, den Mond, und siehst, dass er eine rote Zipfelmütze trägt und lacht und dir entgegenwinkt. Und das längst vergessen geglaubte Kind in dir tippt dir auf die Schulter und zwinkert dir zu. Und plötzlich weißt du, dass du keine Angst haben brauchst. Du weißt, dass du durch diese Nacht kommen wirst und auch durch die nächste…
Und doch wünscht’ ich, es wär’ noch mal viertel vor sieben und ich wünschte ich käme nach Haus…
Bildquelle: © Franz Kolup
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