Kommentar
Nochejassa

Christian Marold
RZ-Chefredakteur | Foto: RZ

Wir Vorarlberger sind berühmt im Nochjassa. Soll heißen, wir bewerten Dinge und Situationen sehr gerne mit der Vergangenheit. Gut, das machen nicht nur wir Gsiberger, aber bei uns gibt es dafür eben einen bestimmten Ausdruck: Nochejassa.

Oft lohnt es sich, den Blick in die Vergangenheit zu wenden. Gerade nach einem Jahr Pandemie und dem zweiten Osterfest mit Restriktionen. Im Folgenden nur ein paar Gedanken zu einigen Kommentaren von mir, exakt vor einem Jahr:

Ja, wir schaffen das alle und ja, wir überstehen gemeinsam diese schwere Krise. Es bleibt uns nun ehrlich gesagt auch nichts anderes übrig. Der Sog der Unsicherheit und das Bedürfnis nach Sicherheit hinterlässt aber jetzt schon tiefe Spuren.

Diese tiefen Spuren merken wir zum Beispiel bei den Kindern und Jugendlichen. Die Jugendpsychiatrie verzeichnet einen dramatischen Anstieg an Fällen und daher müssen ältere Jugendliche mittlerweile auf die Erwachsenen-Psychiatrie verlegt werden. Bei den Erwachsenen hingegen werden Termine nach hinten verlegt und nur noch Akutfälle behandelt.

Wir sitzen alle im selben Boot. Wir alle müssen mit der derzeitigen Krise umgehen. Aber so unterschiedlich jeder von uns ist, so verschieden sind auch unsere Ängste und Sorgen. Wird es nach der Sturmfront vielleicht nur noch eine Klasse (statt der Holz- Mittel- und Luxusklasse) geben? Der solidarische Grundgedanke des Miteinanders im Moment lässt darauf hoffen. Die Box der wirtschaftlichen Pandora voll von Gier und Profit zeigt uns aber, dass ein gesellschaftliches Kollektiv - wenn überhaupt - nur auf bestimmte Zeit gut gehen kann.

Ein gemeinsames Vorgehen funktioniert auch nach einem Jahr Pandemie nicht wirklich. Zu hoch ist der Druck aus der Wirtschaft. Zu viel steht oberflächlich auf dem Spiel. In Vorarlberg ist die Lage im Gesundheitssystem nach wie vor entspannt. Leider sind die Arbeitsbedingungen und der Personalstand mit fachlich-übergreifender Ausbildung noch zu dünn – auch hier im Land. Im Bildungsbereich schippern wir weiterhin mit einer Notlösung in eine ungerechte Zukunftsperspektive für unsere Kinder. Ein Ende oder Land in Sicht am weiten Schichtbetriebsozean ist nicht abzusehen.

Die Experten und Politiker scheuen sich vor der Beantwortung der Frage, wie lange diese Isolation von Menschen in der Welt noch andauern wird. Dabei geht es um eine wichtige Komponente: Wissen. Je mehr Menschen getestet werden, je mehr Menschen sich über einen längeren Zeitraum an die Verordnungen halten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, in absehbarer Zeit in eine Art Normalzustand (wenn es diesen überhaupt wieder gibt) zu erreichen. Statistisch kennen wir hauptsächlich die Anzahl der Toten, die durch COVID-19 gestorben sind. All die anderen Zahlen - bezüglich Infizierung und Genesung - sind aufgrund der geringen Testungen und der Wahrscheinlichkeit, dass die Anzahl der Infizierungen weitaus höher ist, völlig unbekannt. Um es hier noch einmal klar zu machen: Jeder Corona-Tote ist ein Toter zu viel. Genauso wie all die anderen Menschen, die jetzt sterben müssen. Auch diesen Menschen und den Angehörigen gilt jedes Beileid. Wenn eine breitere Testung erfolgt und jeder Einzelne wüsste, ob er selbst infiziert ist oder nicht, ist ein verantwortliches Handeln viel größer. Wissen über die eigene Befindlichkeit schärft das Bewusstsein für das tägliche Tun. Und damit ist nicht die Wissensaneignung gemeint, die uns irgendwelche Verschwörungstheoretiker beibringen wollen. Es ist schlicht das Wissen über den Zustand der eigenen Gesundheit.

In dieser Hinsicht sind wir nach einem Jahr Pandemie wesentlich weiter. Andere politische Versprechungen sind noch in der Warteschleife. Wir werden also weiter nochejassa.

Kommentare

?

Du möchtest kommentieren?

Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.

Du willst eigene Beiträge veröffentlichen?

Werde Regionaut!

Jetzt registrieren

Du möchtest selbst beitragen?

Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.