Hilfe für kranke Stücke – Tierarzt Dr. Matthias Seewald im Interview

Dr. Matthias Seewald behandelt zu 80 % Kleintiere und zu 20 % Wildtiere.
8Bilder

Wildtiere zeigen eine hohe Selbstheilungstendenz. Dr. med. vet. Matthias Seewald, Tierarzt in der Praxis am Alpenzoo, greift bei hilfsbedürftigem Wild nur dann ein, wenn es Aussicht auf eine vollständige Genesung hat und das Überleben in freier Wildbahn möglich ist.

Jagd in Tirol: Wie wirkt sich Stress auf die Gesundheit des Wildes aus?
Matthias Seewald: Hoher Stress wirkt sich bei Wildtieren ähnlich aus wie beim Menschen: Die Immunabwehr wird geschwächt und sie sind viel anfälliger für Krankheiten. Ein Drachenflieger versetzt einen Hasen oder ein Schneehuhn zum Beispiel in Alarmbereitschaft. Die Folge: In Gegenden, in denen viel geflogen wird, gibt es weniger jener Wildtierarten, welche sich dadurch bedroht fühlen, manche können sich aber auch daran gewöhnen. Ein weiterer Stressfaktor ist die Überpopulation, die unter anderem das Auftreten von Räude begünstigt.

JIT: Welche Trends hinsichtlich Krankheitsursachen zeichnen sich für das Wild in Tirol ab?
Matthias Seewald: Die Klimaerwärmung unterstützt die Entwicklung von Zecken und anderen Parasiten. Dadurch steigt das Risiko von Parasitosen; das sind Infektionskrankheiten, die nicht durch Bakterien, Viren oder Pilze, sondern durch Parasiten wie Milben, Läuse, Würmer etc. verursacht werden. Manche Krankheiten werden durch den unmittelbaren Kontakt eines kranken mit einem gesunden Wild übertragen und können sich fallweise schnell verbreiten.

JIT: Welche Anzeichen signalisieren den Jägern, dass Wildtiere von einer Krankheit betroffen sind?
Matthias Seewald: Die aufmerksamen Jäger beobachten ihre Stücke genau, tauschen sich untereinander aus, werden meist hellhörig, wenn ihnen Veränderungen auffallen, etwa an der Decke, den Lichtern, den Lauschern und der Flanke. Außerdem enthält auch der Wildtier-Kot Hinweise auf gewisse Krankheiten. Nicht zuletzt ist es die Verhaltensänderung, die Aufschluss darüber gibt, ob ein Stück gesundheitlich beeinträchtigt ist. Ein Indikator für Gamsblindheit ist zum Beispiel der ataktische, unsichere und unregelmäßige Gang der betroffenen Gämse.

JIT: Gibt es für Wildtiere eine Art Gesundheitsvorsorge?
Matthias Seewald: Ich werde immer danach gefragt, ob ich denn eine Impfung gegen die Räude hätte und muss diese Frage leider mit ‚Nein‘ beantworten. Die Räude wird durch die sogenannte Räudemilbe verursacht, wogegen es leider keine Impfung gibt und so der Bestand nicht prophylaktisch – zumindest nicht durch Impfstoffe – vor dem Parasitenbefall geschützt werden kann.

JIT: Wie hoch ist die Ansteckungsgefahr für den Jäger oder seinen Jagdhund beim Körperkontakt mit kranken Wildtieren?
Matthias Seewald: Zoonosen, also Krankheiten, die vom Wild auf den Menschen übertragen werden, sind den meisten Jägern bekannt. Allerdings sollten Kurse zur Wildbrethygiene regelmäßig besucht werden. Auch wer an den Traditionen des Jagens festhält, sollte die Kenntnis von übertragbaren Krankheiten des Brauchtums wegen nicht einfach ignorieren.

JIT: Zahlt es sich überhaupt aus, kranke Wildtiere zu behandeln, zumal dies oft mit hohen Kosten verbunden ist?
Matthias Seewald: Für mich ist das eine Frage der Ethik und des Tierschutzes. Zu uns werden pro Jahr ca. 400 Findlinge gebracht, wenn es notwendig ist, werden die Tiere von uns bestmöglich betreut. Der Aufwand steigt, Geld verdienen wir mit der Wildtierstation keines. Idealismus aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört deswegen unbedingt dazu. Die Auffangstation bzw. die Wildtier-Quarantäne sind gleich neben meiner Praxis, was heißt, dass ich in meinen Pausen regelmäßig nach den Patienten sehen kann.

JIT: In welchen Fällen entscheiden Sie dennoch, ein Stück einzuschläfern?
Matthias Seewald: Meine Aufgabe als Tierarzt ist es für das Wohl aller Tiere einzutreten. Wenn ich wirklich nichts mehr tun kann, was mindestens die Lebensqualität wiederherstellt oder wenn eine adäquate Nachsorge kaum machbar ist, dann entscheide ich mich für Euthanasie und nehme dem Tier sein Leid.

JIT: Was kann man vom Wild lernen?
Matthias Seewald: Durch das aufmerksame Beobachten erkennt man, dass die Natur, so schön sie ist, auch beinhart sein kann. Wenn wir beispielsweise eine Gämse in Narkose legen müssen, dauert es nicht lange, bis die ‚Nachbar-Gämsen‘ kommen – aber nicht etwa, weil sie der geschwächten Gämse helfen möchten. Weil Gämsen keine Raubtiere sind, versuchen sie sofort, das schwächste Mitglied der Gruppe loszuwerden. Für sie gilt: Eine Gruppe ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Diese grausame ‚Regel‘ kommt auch bei Steinböcken zum Tragen. Bei Wölfen ist es allerdings umgekehrt: Vor allem der Alpha-Wolf benötigt in der Regel eine wesentlich höhere Narkose-Dosis als andere Rudelmitglieder, weil er stets in Alarmbereitschaft ist und sein Rudel bis zur Tiefschlafphase verteidigt.

Über Dr. Matthias Seewald
Der gebürtige Stubaier absolvierte sein Studium an der Veterinärmedizinischen Universität in Wien und arbeitete bereits während seiner Ausbildung in Zoos in Österreich und Deutschland sowie in der Schweiz und in Schweden, sowohl im Kleintier- als auch im Großtierbereich. Aufgrund der Häufung von Tuberkulose-Fällen bei Wildtieren bat das Gesundheitsministerium den jungen Tiroler, seine Expertise im Rahmen einer Doktorarbeit zur Verfügung zu stellen. 2009 trat der Alpenzoo mit der Bitte an Seewald heran, eine Tierarztpraxis zu konzipieren und zu leiten. Seewald bekleidet zusätzlich federführende Positionen verschiedener Interessensvertretungen der Tiermedizin.

www.tierarzt-am-alpenzoo.at bzw. www.facebook.com/TierarztamAlpenzoo

Du möchtest regelmäßig Infos über das, was in deiner Region passiert?

Dann melde dich für den MeinBezirk.at-Newsletter an

Gleich anmelden

Kommentare

?

Du möchtest kommentieren?

Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.

Folge uns auf:

Du möchtest selbst beitragen?

Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.