Wenn der Alltag zum Versteckspiel wird

"Betroffene leben in ständiger Angst, zu Menschen zweiter Klasse degradiert zu werden und verbergen deshalb ihr Defizit", berichtet Ronald Zecha von der Volkshochschule Tirol im Gespräch mit dem Bezirksblatt Kufstein. | Foto: Noggler
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  • "Betroffene leben in ständiger Angst, zu Menschen zweiter Klasse degradiert zu werden und verbergen deshalb ihr Defizit", berichtet Ronald Zecha von der Volkshochschule Tirol im Gespräch mit dem Bezirksblatt Kufstein.
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BEZIRK (mel). Der Gang zur Behörde wird zum Spießrutenlauf, das Entziffern einer Speisekarte treibt Schweißperlen auf die Stirn und das Mitteilungsheft des eigenen Schulkindes gibt Rätsel auf. Viele Menschen im Bezirk Kufstein können nicht sinnerfassend lesen und schreiben. Ihr Leben ist dominiert von Scham, Angst und Verzweiflung. Doch oft fällt dies selbst dem engen persönlichen Umfeld nicht auf, im Alltag haben sich die Betroffenen meist geschickte Strategien zurechtgelegt, damit ihr Geheimnis nicht ans Licht kommmt. "Diese 'Tricks' reichen Sagern wie 'Brille vergessen' bis hin zu einem einbandagierten Arm. Sie schämen sich und wollen auf keinen Fall, dass jemand über ihre Lese- oder Schreibschwäche Bescheid weiß", erklärt Ronald Zecha, Leiter der Volkshochschule Tirol.

Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung

Aus diesem Grund lässt sich auch die Anzahl der Betroffenen nicht genau erurieren, OECD-Studien gehen von rund 970.000 Personen in Österreich bzw. 35.000 Tirolern aus, die Schwierigkeiten beim sinnerfassenden Lesen haben. Dabei handle es sich keineswegs um ungebildete Personen, viele haben einen Schulabschluss.
"Es ist nicht so, dass diese Menschen keine Schulbildung genossen haben. Man kann Lesen und Schreiben mit einer Fremdsprache vergleichen: Wenn man diese nicht regelmäßig übt, wird man schlechter darin, bis man sie irgendwann verlernt hat", bringt es Zecha auf den Punkt. Die Abstufungen sind dabei individuell verschieden: Können einige Betroffene gewisse Satzteile und Wörter verstehen, haben andere jegliche Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeiten verloren.

Grundbildung: Kostenlos und anonym

"Das Gute ist: Es gibt Hilfe und jeder kann es wieder erlernen. Wichtig ist nur, dass die Leute auch davon erfahren und ihre gewaltige innere Hürde überwinden", weiß Zecha und verweist auf die "Grundbildung für Erwachsene", eine Kampagne der Volkshochschule Tirol zur Alphabetisierung. Mit finanzieller Unterstützung des Landes Tirol und des Bundes kann ein maßgeschneidertes Programm kostenlos angeboten werden. In Tirol finden die Grundbildungskurse in Lienz, Kitzbühel, Kufstein, Schwaz, Innsbruck, Imst und Reutte statt.
Sigrid Strauß, Leiterin der VHS Kufstein, beschreibt die einzelnen Schritte des Programms: "Bei einem anonymen und kostenlosen Erstgespräch wird der individuelle Lernweg besprochen, anschließend folgt eine Orientierungsphase und ein Training in Kleingruppen." Wer bei der Grundbildung jedoch an Abläufe wie in Schulklassen denkt, liegt falsch. "Erwachsene lernen völlig anders als Kinder. Unsere Trainer sind speziell auf Erwachsenenbildung geschult, und gehen auf die individuellen Bedürfnisse jedes Kursteilnehmers ein", erklärt Strauß.

Steigerung der Lebensqualität

Schon nach wenigen Unterrichtseinheiten machen sich in der Regel erste Fortschritte bemerkbar, von Erfolgserlebnissen wie dem ersten selbst geschriebenen Brief oder ausgefüllten Kreuzworträtsel weiß Strauß im Gespräch mit den Bezirksblättern zu berichten. "Diese Menschen haben eine unglaubliche Freude, Selbstbewusstsein und Lebensqualität dazugewonnen."
Etwa 1300 Erwachsene in Tirol haben seit der Einführung im Jahr 2007 von der Grundbildung profitiert. Die Kurse sind sowohl für Einheimische als auch für Menschen mit Migrationshintergrund gedacht, der Einstieg ist jederzeit möglich. "Am Ende gilt für alle Teilnehmer, dass sie mit ihren neuen Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten beruflich wie privat leichter durchs Leben gehen können", so Strauß abschließend.

Erste Informationen über die Grundbildung können Interessierte am leichtesten über die Alfa-Nummer Tirol 0650 41 53 303 erhalten.

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