"Auch später Geborene leiden an den Folgen der Nazizeit"

Univ. Prof. Primar Christian Haring und Ao. Univ.-Prof Astrid Lampe
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  • hochgeladen von Stefan Fügenschuh

HALL. Das Erinnern an die nationalsozialistische Machtergreifung in Tirol im Jahre 1938, die Veranstaltungen, Bücher und Informationen über die Ereignisse und katastrophalen Folgen des sogenannten „Anschlusses“ rücken auch wieder die gesellschaftlichen und persönlichen Traumatas des Landes und seiner BewohnerInnen aus dieser Zeit in den Mittelpunkt.

„Unsere Großeltern und Eltern wurden durch unmitelbare persönliche Erlebnisse während und nach der NS-Zeit geprägt. Kriegsgräuel, Zerstörung, Verfolgung, Vergewaltigungen, der Verlust von nahen Angehörigen, Hunger und Entbehrungen haben tiefe persönliche und gesellschaftliche Traumatas hinterlassen. Viele unserer Großeltern und Eltern, Opfer und Täter, erlebten das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, haben Schuld auf sich geladen, litten unter Schuldgefühlen. Sie waren für ihre Angehörige und Kinder emotional nicht mehr erreichbar. Alkohol und Gewalt, verbunden mit einem langanhaltenden Prozess des Verdrängens und der Tabuisierung, des Nichtaussprechens prägten auch in Tirol vielfach den Familienalltag“, berichtet Univ. Prof. Primar Dr. Christian Haring, ärztlicher Direktor Landeskrankenhaus Hall.

„Trotzdem oder gerade deswegen reichen die langen Schatten der Vergangenheit bis in die Gegenwart. Die Gleichzeitigkeit von Tätern und Opfern, die Sprachlosigkeit auf beiden Seiten hat Auswirkungen auf die nächste Generation. Die traumatischen Erfahrungen hinterlassen ihre Spuren in der Erlebniswelt der Einzelnen und im kollektiven Bewusstsein. Durch von Traumatisierung geprägte Bindungsmuster und Erziehungsverhalten wirken sie in die Generation der heute 30- bis 50-Jährigen fort. Es ist unbestritten, dass die persönlichen und gesellschaftlichen Traumatisierungen aus dem Zweiten Weltkrieg und der auf Leistung ausgerichteten Wiederaufbauzeit späte Auswirkungen auf die Nachkriegsgenerationen in Tirol haben.Die Folgen traumatisierender Erfahrungen werden wie, Haltungen und Werteeinstellungen „transgenerational“ (über Generationen) weitergegeben“, so Ao. Univ.-Prof. Astrid Lampe, stellv. Direktorin der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie in Innsbruck.

„Vielfach öffnet sich erst jetzt ein Zeitfenster, in dem unsere PatientInnen über eigene Erlebnisse oder denen ihrer Eltern berichten und sie als Ursachen für ihre Angststörungen und Depressionen erkennen. Solange sich der Mensch erinnert, ergibt sich immer wieder die Gelegenheit, Einfluss zu nehmen. Bleibt er im Schrecken der Vergangenheit verhaftet, wird die Erinnerung quälend sein. Gelingt es jedoch, den Kreislauf zu durchbrechen, kann er sein Trauma überwinden“, so Christian Haring und Astrid Lampe.

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