Eine Flucht aus der Ukraine
Kiew. Ushgorod. Gobelsburg.

Anna und Igor flohen mit ihren vier Kindern vor dem Kreig von Kiew nach Gobelsburg.
  • Anna und Igor flohen mit ihren vier Kindern vor dem Kreig von Kiew nach Gobelsburg.
  • hochgeladen von Manfred Kellner

VON MANFRED KELLNER
LANGENLOIS Report über eine Flucht aus der Ukraine - über 1.800 Kilometer von Kiew ins niederösterreichische Gobelsburg, vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges mitten in Europa.

Die Heimat

Seit 1992 lebt Igor Kostenko in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die Metropole am Dnepr, mit fast drei Millionen Einwohnern. Kiew, die größte Stadt der Ukraine, ist ein wichtiger Wirtschafts- und Kulturstandort, mit alteingesessenen Unternehmen und aufstrebenden Neugründungen, mit religiösen Denkmälern und aufsehenerregender weltlicher Architektur, mit Museen, Theatern und Konzerthallen, mit Sportvereinen, von denen Dynamo Kiew einer der bekanntesten ist. Anna Grymailovskaya, die in dieser Stadt geboren ist, arbeitet dort als Zahnärztin. Igor hat Deutsch und Englisch studiert und eine Zeitlang als Dolmetscher gearbeitet, dann aber sein Talent fürs Management entdeckt und sich in der Nutzfahrzeugbranche als erfolgreicher Manager engagiert.

Anna und Igor werden in Kiew ein Paar - und beschließen, sich selbstständig zu machen: mit einer modernen Zahnärztlichen Klinik. Anna behandelt die Patientinnen und Patienten, Igor kümmert sich um das Backoffice - von Organisation bis zu den Steuern. Die Geschäftsidee der beiden ist erfolgreich, immer mehr Patienten lassen sich in der Klinik behandeln, nicht nur Kiewer kommen, der gute Ruf verbreitet sich weit über die Stadtgrenze. Und auch privat ist das Paar glücklich: Vier Kinder haben sie, die heute 13-jährige Martha, die 11-jährige Zlata, den 10-jährigen Sascha und die 7-jährige Arina. Eine glückliche Familie, mit einem erfolgreichen eigenen Unternehmen, mit besten Zukunftsaussichten. Bis zum 24. Februar 2022.

Der Krieg

Krieg! Putins Truppen versuchen am 24. Februar 2022 mit einer Luftlandeoperation, den Flughafen Kiew-Hostomal zu erobern - und scheitern. Bodentruppen rücken nach, der Vormarsch gerät aufgrund der Gegenwehr der Ukrainer ins Stocken. Doch die Lage in Kiew ist verheerend. Bomben- und Raketenangriffe zerstören Wohngebäude und Krankenhäuser. Die Menschen flüchten in Keller und Metrostationen. Auch im Leben der Familie von Anna und Igor ist nichts mehr so wie zuvor. Frau und Kinder leben jetzt in einem Vorratskeller im Garten, Igor bleibt im Haus, um ihnen im Notfall von außen helfen zu können. Auch die Schwiegermutter findet Unterschlupf im Keller, der notdürftig von zwei mobilen Elektroöfen beheizt wird. Immer wieder sind die Sirenen zu hören und entfernte Einschläge von Bomben und Granaten. Anna trägt die Koffer der Familie zusammen und packt Sachen zusammen für eine mögliche Flucht.

Die Telefonate

Trotz des Krieges stehen die Handys nicht still. Verwandte rufen an, mit guten und mit schlechten Nachrichten; Patienten, die mitten in einer Behandlung stecken, wollen wissen, wie es weitergeht; Freunde, die Mut zusprechen oder selbst Trost brauchen. Und immer wieder meldet sich ein Freund von Igor aus Langenlois, genauer: aus Gobelsburg: Peter Schuhberger, Vater von Eva Moosbrugger vom Weingut Schloss Gobelsburg. Er macht sich große Sorgen um Sicherheit und Gesundheit der befreundeten Familie und versucht, Igor davon zu überzeugen, aus Kiew zu fliehen: „Fliehe mit deiner Familie! Schlag dich durch zu uns, hier habt ihr eine sichere Zuflucht!“ Doch noch zögern Anna und Igor. Kann man Freunde und Verwandte einfach so zurücklassen? Hat man nicht auch eine Verantwortung für die Patientinnen und Patienten? Und was wird aus all dem, das man in den letzten Jahren mühsam aufgebaut hat?


Die Entscheidung

Am 2. März schlagen Bomben in der direkten Nachbarschaft ein. Die Kinder sind geschockt, Anna und Igor nicht minder. Jetzt ist die Entscheidung schnell getroffen: Die zwei Autos der Familie werden zu Fluchtfahrzeugen, die Koffer so auf der Hinterbank und im Kofferraum verstaut, dass sie eine Art Kugelfang für die Kinder bilden. Nur das Notdürftigste können sie mitnehmen, viel zu viel muss zurückbleiben, doch jetzt gilt nur noch eines: das Leben zu retten…

Igor musste übrigens nicht befürchten, dass ihn ukrainische Stellen aufhalten, um ihn in die Landesverteidigung einzugliedern: Grundsätzlich dürfen zwar nur Frauen und Kinder das Land verlassen, aber Frauen mit drei und mehr Kindern können von ihren Männern begleitet werden.

Die Flucht

Wer beim Wort „Flucht“ an ein eiliges, schnelles Entkommen denkt, muss sich bei Annas und Igors Flucht aus Kiew umstellen. Igor: „Von unserem Haus bis zur Stadtgrenze sind es etwa 13 Kilometer. Für diese Strecke haben wir vier Stunden benötigt.“ Immer wieder gab es Kontrollposten, die die Papiere, die Wagen und die Ladung kontrollierten, und immer wieder waren Anna und Igor nicht die einzigen, die von einer Warteschlange in die nächste fuhren.

Von der Stadtgrenze Kiews nach Ushgorod kurz vor der Grenze zur Slowakei benötigte die Familie dann sage und schreibe sechzig Stunden. Igor: „Normal wären es etwa elf Stunden Fahrzeit gewesen!“ Und es waren sechzig Stunden, die es in sich hatten. Denn die Familie fuhr nicht auf Autobahnen oder Schnellstraßen, sondern auf einfachen, kleinen Straßen, manchmal auch auf nicht-asphaltierten Wegen, dann auf schlichten Feldwegen oder hin und wieder ging es auch einfach querfeldein. Da liegen die Nerven schnell blank, doch Igor und Anna versuchen, sich möglichst wenig anmerken zu lassen, um die Kinder noch mehr zu verängstigen als sie es ohnehin schon waren. An Schlaf war kaum zu denken bei dieser Fahrt: zwei, drei Mal gönnten sie sich zwanzig, dreißig Minuten, mit Handyalarm zum Aufwachen, um nicht zu viel Zeit zu verlieren.

Immerhin: Neben den vielen kleinen Gefahren der Flucht gerieten sie nur ein einziges Mal in eine wirklich bedrohliche Situation: Bewaffnete Männer hielten sie am Rande eines Waldstücks auf, Ukrainer glücklicherweise, und befahlen ihnen, sofort zurückzufahren: Im Wald lägen Panzer, Beschuss könne jederzeit losbrechen… Igor, Anna und ihre Kinder entkamen auch dieser Gefahr. Vor und nach der Grenze stellten sie geplatzte Reifen vor Probleme, doch mit Geschick und Glück konnten sie diese Herausforderungen meistern - mit Hilfe eines ukrainischen Polizisten etwa, der ihnen angesichts der vier Kinder auch half, verhältnismäßig schnell an den 141 Autos vorbeizukommen, die vor ihnen am Grenzübergang Ushgorod standen. „Über einen Tag warten wir hier schon!“ hatte ein Autofahrer aus der Wartereihe zu ihnen gesagt, dank der Hilfe des Polizisten brauchten Igor und Anna „nur“ noch neun Stunden, bis sie in der Slowakei waren.

Hier konnten sie zum ersten Mal seit dem Start in Kiew duschen, in Ruhe etwas essen und ein paar Stunden richtig schlafen - in einem Hotel, in dem ihnen das Zimmer zur Hälfte des eigentlichen Preises vermietet wurde. Nach der Weiterfahrt am nächsten Morgen gab es auf der Autobahn wieder eine Reifenpanne, doch auch dieses Mal hatte Igor Glück. „Ich weiß es nicht bestimmt, aber ich glaube, uns hat eine Gruppe von Schmugglern geholfen“, meint er.

Die Zuflucht

Mit einem Satz neuer Reifen ging es weiter, und gegen 0.30 Uhr traf die Familie nach etwa 1.800 Kilometern Autofahrt in Gobelsburg ein - erleichtert und voller Freude empfangen von Peter Schuhberger und dem Ehepaar Moosbrugger. Eine Unterkunft beim Schloss Gobelsburg war bereit - eine sichere Zuflucht für Anna, Igor und die Kinder - mit Menschen, die ihnen den Start in einer fremden Umgebung so leicht wie möglich gemacht haben.

Heute gehen die Kinder in Krems zur Schule, sind begeistert von der Art und Weise, wie in Österreich gelernt wird, sind in Sportvereinen, finden erste Freundinnen und Freunde und können so die gefährliche und aufregende Flucht hinter sich lassen. Die Eltern haben Unterstützung gefunden auch bei der Flüchtlingshilfe Langenlois, dort lernt Anna auch Deutsch und Igor unterstützt die Arbeit - etwa, indem er Informationsblätter über das Leben in Österreich, über Hilfen und Unterstützung ins Ukrainische übersetzt.

Die Zukunft

„Wir würden gern arbeiten! Denn wir daran gewöhnt, für unseren Lebensunterhalt selbst zu sorgen!“, betont Igor, und meint damit Arbeit über die Unterstützung der Flüchtlingsinitiative hinaus. „Gerade haben wir die Blaue Karte für die Arbeitserlaubnis bekommen, das ging recht schnell. Die E-Cards haben wir allerdings noch nicht. Doch wir verstehen, dass es sicherlich schwierig ist, das alles für so viele Flüchtlinge schnell zu organisieren!“ Anna und Igor unterstreichen: „Wir haben hier so viel bekommen. Da wollen wir auch etwas zurückgeben - doch das können wir nur, wenn wir auch arbeiten dürfen!“

Natürlich möchte die Familie schnell wieder nach Kiew zurückkehren. Doch Igor meint: „Das wird wohl leider keine Frage von Tagen oder Wochen sein, wie viele Ukrainer hier glauben. Ich denke, dass dieser Krieg leider lange andauern wird, sehr lange!“ Vielleicht, so sagt er nachdenklich, sogar so lange wie der Jugoslawien-Krieg. Sein Tipp an seine Landsleute lautet deshalb: „Stellt euch darauf ein! Lernt Deutsch! Sucht euch eine Arbeit, sobald das möglich ist - damit ihr auf eigenen Füßen stehen könnt!“

Du möchtest regelmäßig Infos über das, was in deiner Region passiert?

Dann melde dich für den MeinBezirk.at-Newsletter an

Gleich anmelden

Kommentare

?

Du möchtest kommentieren?

Du möchtest zur Diskussion beitragen? Melde Dich an, um Kommentare zu verfassen.

4:00

Wassermann – Glückskind des Monats
So wird das Horoskop im April

Alle zwölf Sternzeichen sind schon gespannt, was Astrologe Wilfried Weilandt zu berichten hat. Wie der April wird, wollt ihr wissen? Werft einfach einen Blick ins aktuelle Horoskop! ÖSTERREICH. Der April macht, was er will, das sagt uns schon der Volksmund. Damit es aber nicht ganz so turbulent wird, schauen Astrologe Wilfried Weilandt und Moderatorin Sandra Schütz wieder in die Sterne. Und so viel sei vorweg verraten: Der Wassermann ist das Glückskind des Monats, tapfer müssen hingegen die...

Hier findest du die billigsten Tankstellen in Niederösterreich.
4

Benzin- und Dieselpreise
Die billigsten Tankstellen in Niederösterreich

Hier erfährst du täglich, wo die billigsten Tankstellen in Niederösterreich sind, wie man günstig tankt und auch, wie man am Besten Sprit sparen kann. NÖ. In ganz Österreich ist es am günstigsten Vormittags zu tanken, da die Tankstellen nur einmal täglich, um 12 Uhr, die Spritpreise erhöhen dürfen. Preissenkungen sind jedoch jederzeit und in unbegrenztem Ausmaß möglich. Wir aktualisieren die Liste der günstigsten Tankstellen in Niederösterreich täglich mit den aktuell gültigen Preisen. Die...

UP TO DATE BLEIBEN

Aktuelle Nachrichten aus Niederösterreich auf MeinBezirk.at/Niederösterreich

Neuigkeiten aus Niederösterreich als Push-Nachricht direkt aufs Handy

Bezirksblätter auf Facebook: MeinBezirk.at/Niederösterreich

ePaper jetzt gleich digital durchblättern

Storys aus Niederösterreich und coole Gewinnspiele im wöchentlichen MeinBezirk.at-Newsletter


Du möchtest selbst beitragen?

Melde dich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.