Interview
"Eine gewisse Zielgruppe erreichen wir gar nicht mehr"

  • Jasmine Chansri leitet die Geschicke der Volkshilfe in Oberösterreich.
  • Foto: BRS/Diabl
  • hochgeladen von Christian Diabl
 

Jasmine Chansri von der Volkshilfe über Armut, die Auswirkungen der Corona-Krise und die große Chance, Kinderarmut in Österreich abzuschaffen.

LINZ. Die Linzerin Jasmine Chansri ist seit Kurzem Landesgeschäftsführerin der Volkshilfe Oberösterreich und wirbt aktuell für eine Kindergrundsicherung.

Wie viele armutsgefährdete Kinder gibt es in Oberösterreich?
Jasmine Chansri:
Rund 33.000 Kinder, eine erschreckende Zahl.

Und in Linz?
Dazu gibt es leider keine abrufbaren öffentlichen Zahlen. Aber ich schätze, dass von den 33.000 viele auch in Linz leben.

Wie definiert man ein armes Kind?
Bei einem Einzelhaushalt sind das um die 1.200 Euro brutto. Da bleibt nach der Miete und so weiter nicht mehr viel Geld übrig und daher sprechen wir von Armutsgefährdung. Man muss deshalb nicht tatsächlich armutsbetroffen sein, aber Dinge wie Jobverlust oder unerwartete Anschaffungen könnten dazu beitragen. Das heißt bei Kindern, dass man keine Jause mehr hat oder nicht beim Schulausflug mitfahren kann. Dadurch werden sie ausgegrenzt.

Welche Kinder sind vor allem betroffen?
Statistisch trifft das zum Beispiel Kinder von alleinerziehenden Frauen, wenn mit der Kinderbetreuung eine Vollanstellung nicht möglich ist.

"Kinder sagen, das ist halt so"

Bekommen die Kinder das mit?
Sie realisieren die Umstände, dass einfach manche Dinge nicht möglich sind. Die Kinder sagen, das ist halt so und passen sich sehr schnell an. Sie kommen oft in diese Robin-Hood-Funktion, in der sie die Mama und das Umfeld beschützen und sich selbst zurücknehmen.

Was macht das mit Eltern?
Das fördert nicht das Selbstwertgefühl, man fühlt sich nicht in der Lage, für das Kind sorgen zu können. Ich erlebe das aber eher umgekehrt. Die meisten Eltern schauen noch, dass möglichst alles für das Kind da ist. Wenn dann überhaupt ein Paar Schuhe – eh schon gebraucht – besorgt wird, dann kriegt die zuerst das Kind. Irgendwann ist die Grenze aber erreicht: da etwas für den Schulausflug, dort wieder eine Erhöhung und dann noch ein Schulmaterial.

Wo können sich betroffene Eltern hinwenden?
Das Netz ist in Linz sehr gut ausgebaut, da ist auch die Stadt Linz sehr aktiv. Wir als Volkshilfe bieten in unseren Volkshilfe-Shops auch klassische soziale Leistungen an. Betroffene können sich in der Sozialabteilung der Stadt Linz einen Gutschein holen, wenn ein Sonderfall eintritt und etwa eine Waschmaschine kaputt ist. Dann können sie bei uns in die Shops kommen und gebrauchte Dinge günstig oder – wenn es die Situation verlangt – gratis bekommen. Es geht wirklich um die Absicherung der Grundbedürfnisse, Dinge, die für andere Menschen ganz normal sind. Dann gibt es natürlich auch Sozialberatungen, wo sich betroffene Personen erkundigen können, wo sie Anträge stellen können.

"Nicht jeder hat ein tolles Smartphone"

Hat sich durch die Corona-Krise jetzt schon etwas verändert?
Definitiv. Eine gewisse Zielgruppe erreichen wir gar nicht mehr. Die sind durch die Pandemie derartig abgegrenzt worden. Im letzten Jahr ist ja sehr viel im E-Service-Bereich passiert, etwa online Anträge stellen oder ein Online-Gespräch. Da scheitert es teilweise an Leihgeräten oder auch am Internet. Das ist ganz erschütternd. Man muss die Leute dort abholen, wo sie derzeit sind. Es ist ein Irrglaube, dass jeder ein tolles Smartphone hat.

Hat die Corona-Pandemie bei der Armutsbekämpfung zu einem Umdenken in der Politik geführt?
Das Bemühen stelle ich fest, aber alles was mit Budgets zu tun hat, ist schwierig. Ein positiver Effekt ist etwa der Fördertopf „Sonderrichtlinie Armutsbekämpfung“ im Sozialministerium. Da hat die Volkshilfe Österreich den Zuschlag bekommen, um die Kinderarmut abzuschaffen. Mit dieser Unterstützung werden jetzt Sozialarbeiter angestellt, um die Jugendlichen und Familien wirklich aus der Armut zu holen – nicht nur mit Transferleistungen, sondern mit sozialpädagogischer Unterstützung. Aber es gehört noch viel mehr getan. Wenn man bedenkt, dass im Herbst die Delogierungswelle losgeht. Da werden auch Menschen betroffen sein, die vorher nicht klassisch in diese armutsgefährdeten Gruppen gefallen sind. Da haben wir alle einen Auftrag.

Die Volkshilfe will die Kinderarmut abschaffen, wie soll das gehen?
Jedes Kind in Österreich soll statt der Familienbeihilfe 200 Euro fix zugesprochen bekommen und dann mit einem Betreuungskonzept maximal bis zu 625 Euro erhalten. Das ist eine Kindergrundsicherung, eine Art Startpaket, um an die Gesellschaft andocken zu können.

"Die Kinder sind gefestigt"

Und das funktioniert?
Wir haben das zwei Jahre wissenschaftlich begleitet mit 23 Kindern in ganz Österreich ausprobiert. Es funktioniert. Die Kinder sind gefestigt und haben Möglichkeiten, an die Gesellschaft anzuschließen. Manchmal sind es nur ganz kleine Hebel, die das ermöglichen.

Wer kontrolliert, ob das Geld bei den Kindern ankommt?
Die Grundsicherung wird von Sozialpädagogen begleitet.

Wie kann man die Forderung der Volkshilfe unterstützen?
Wir sammeln Unterschriften für unsere Petition auf kinderarmut-abschaffen.at. Es freut uns, dass das ein überparteiliches Thema ist, das uns alles verbindet.

Wird das Thema Armut im anstehenden Wahlkampf eine Rolle spielen?
Ich denke schon, dass die Covid-19-Folgen ein Wahlkampfthema sein müssen, sonst würde ich mich als Wählerin nicht angesprochen fühlen.

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