Wie das Ohrlochstechen begann

Prof. Dr. Ulrike Kindl, Volkskundlerin
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Im Zusammenhang mit dem Stechen eines Ohrloches drängt sich so manche Frage auf. Warum wird das gerade bei Mädchen gemacht? Und warum schon ganz früh, manchmal sogar bei Babys. Es geht also primär nicht um das Tragen von Schmuck, sondern um eine magische Handlung. Die Volkskundlerin Prof. Dr. Ulrike Kindl aus Südtirol kann bei der Beantwortung weiterhelfen.
Das Ohrlochstechen war eine Zeremonie, die einer rituellen Entjungferung gleichkam und vergleichbar ist der Beschneidung von männlichen Kindern.
Dr. Ulrike Kindl: "Junge Mädchen wurden in Mesopotamien im Ischtar-Tempel rituell defloriert, ehe sie heirateten, quasi also unter der segnenden Hand der Großen Göttin, die damit ihren Schoß "aufschloss" und fruchtbar machte. Eine Defloration durch einen (profanen) Mann galt als Unheil und sowohl für den Mann als auch für die erwartete Nachkommenschaft als äußerst gefährlich - mit der sogenannten "Tempelprostitution" hatte das wenig zu tun, sehr viel aber mit höchster Verehrung männlicher Zeugungs- und weiblicher Gebärfähigkeit. Ab der Defloration trug die Frau dann lebenslang, wohl als Amulett, einen Ohrstecker in Form eines Sichelmondes. Weiterer Ohrschmuck konnte beliebig dazugefügt werden, doch der heilige "Ohr-Mond" war praktisch die Weihe an die Allmutter. Es könnte gut sein, dass die "Vorverlegung" des Ohr-Durchstechens bereits ins Babyalter eine ähnliche Schutzfunktion haben sollte, wie die Beschneidung der neugeborenen Buben: das kleine Mädchen war damit von Anfang an unter dem Schutz der Großen Göttin und brauchte sich auch nicht  dem Dienst im Tempel unterwerfen, weil sie ja bereits gesegnet und ihr Leib "aufgeschlossen" war."
Wie in vielen anderen Bereichen ist das Tragen von Ohrringen oft bedeutungsleer geworden. Ohrlöcher heutzutage werden nur noch als eine Art von Piercing oder eine Möglichkeit angesehen, Ohrschmuck zu tragen.

Prof. Dr. Ulrike Kindl, Volkskundlerin
alter Ohrschmuck aus Granat
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