Flüchtlinge sind eine Bereicherung
ROHRBACH-BERG. Mit dem Titel "Auf der Flucht" hat der Leiter des ORF-Nahostbüros in Kairo, Karim El-Gawhary, gemeinsam mit seiner Kollegin Mathilde Schwabeneder ein Buch geschrieben. Darin erzählt er die Geschichten von Flüchtlingen, mit denen er selbst gesprochen hat. Einige solcher Geschichten, die für viele Menschen hierzulande kaum vorstellbar sind, rauben ihm den Schlaf. Einige Geschichte aus dem Buch erzählte Karim El-Gawhary bei seinem Besuch im Centro. Der Veranstaltungssaal in Rohrbach-Berg war bis auf den letzten Platz gefüllt – 800 Besucher. Viele, die keine Karten hatten, mussten aus sicherheitstechnischen Gründen heimgeschickt werden.
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„Die Menschen, die in Österreich und Deutschland ankommen, sind nur ein kleiner Ausläufer. Die meisten Flüchtlinge leben in Lagern in den Nachbarländern der Türkei, Jordanien oder dem Libanon", sagt El-Gawhary. Im Libanon etwa sei jeder vierte Mensch ein Flüchtling. "Da bricht die Infrastruktur zusammen. Behandlungen im Krankenhaus gebe es nur mehr über Vorkasse", sagt er. Hier leben auch eine halbe Million schulpflichtige Kinder aus Syrien, von denen zwei Drittel nicht in die Schule gehen. „Das ist eine verlorene Generation, die eigentlich Syrien wieder aufbauen soll. Das wird das viel größere Problem, das hier auf uns zukommt."
Warum erreicht uns die Flüchtlingswelle jetzt?
"Die Gelder für die Flüchtlingshilfen der UNHCR in den Nachbarländern wurden gekürzt. „Wenn Europa sagt, das Boot sei voll, sollte man nicht vergessen, dass es in anderen Ländern schon sinkt“, meint der Journalist.
Flüchtlinge sind keine Naturkatastrophe
Er ärgert sich vor allem, dass die Flüchtlingsproblematik wie eine Naturkatastrophe gesehen wird. Der Konflikt und die Folgen davon wären schon lange absehbar gewesen: „Wir haben jetzt das Ergebnis des gnadenlosen Scheiterns der Politik. Die Quoten hätte man schon vor einem Jahr regeln können oder Aufnahmezentren errichten, in denen ein Auswahlverfahren durchgeführt wird. Das wäre der beste Weg gegen das Schlepperwesen gewesen und die Menschen hätten legal und sicher nach Europa kommen können“, kritisiert er. Auch Abschottung sei keine Lösung, „die Verzweiflung auf meiner Seite des Mittelmeers ist immer ein paar Zentimeter höher als der höchste Zaun", sagt der Nahost-Experte und Buchautor, der in München geboren ist.
Gnade des Geburtsortes
Er appellierte auch an die Zuhörer, sich der Gnades des Geburtstortes wieder bewusster zu sein. "Es hätte auch sein können, dass wir nicht im sicheren Europa sondern in Aleppo, Homs oder Damaskus geboren worden wären."
Herausforderung für Europa
"Was jetzt auf Europa zukommt, ist eine große Herausforderung. Das wird die europäische Gesellschaft sehr polarisieren. Man muss die Diskussion auf eine sachliche Ebene heben. Es geht nicht mehr um das Ob wir damit umgehen, sondern wie wir damit umgehen."
El-Gawhary sieht aber auch viele Dinge, die ihn positiv stimmen: Etwa die Hilfsbereitschaft in Östereich, der Einsatz von vielen jungen Menschen. Er ist optimistisch, dass Österreich an dieser Aufgabe wachsen wird. "Wer weiß, vielleicht erkennen wir erst in vielen Jahren, wie positiv sich das auswirkt, dass wir jetzt Flüchtlinge augenommen haben."
Beispiel Großramming
Der Nahost-Experte berichtet auch von Beispiel Großramming. Der kleine Ort in Österreich hat viele Flüchtlinge aufgenommen. El-Gawhary war selbst dort und war als Lokaljournalist tätig. Er hat mit vielen Menschen gesprochen und erlebt, wie Integration funktionieren kann. "Wir bräuchten in ganz Europa mehrere Großrammings", sagt er. Den Zuhörern rät er, aktiv auf die Flüchtlinge zuzugehen. "Diese Menschen sind eine Bereicherung für uns."
Die Geschichte von Soha
Karim El-Gawhary erzählte die Geschichte von Soha, die mit ihren vier Töchtern aus Damaskus geflohen war. Das nicht seetüchtige Boot, auf dem sie war, sank nachts kurz vor der ägyptischen Küste. Soha hatte als einzige eine Schwimmweste. Ihre Töchter im Alter zwischen drei und elf Jahren klammerten sich an sie, während sie hilflos im Mittelmeer strampelte und überlegte, welche ihrer Töchter sie als erstes loslassen sollte. „Doch die Mutter konnte sich nicht entscheiden. Die Kleinste ist als erste im Meer weggetaucht, dann die nächste und später auch die dritte“, schildert Karim El-Gawhary. In einem Lager hat die Frau ihm ihre Geschichte erzählt. Nur die älteste Tochter hat überlebt. Mit ihr und den Kindern ihrer Schwester, die ebenfalls bei dem Schiffsunglück gestorben ist, lebt Soha heute in Schweden, wo sie als Krankenschwester arbeitet. Von ihr kennt der Journalist den weiteren Weg, von vielen aber nicht. Ihre Spur verliert sich, El-Gawhary kann nicht sagen, ob sie es nach Europa geschafft haben, oder ob sie im Mittelmeer ertrunken sind.
Diskussion:
Fragen aus dem Publikum:
Ist Asyl auf Zeit sinnvoll?
"Darüber brauchen wir gar nicht diskutieren, weil uns die Realität einholt. Ein Teil der Flüchtlinge wird wieder nach Syrien zurückgehen, ein Teil wird hierbleiben – so wie es bei jeder Flüchtlingsbewegung bisher war."
Kann man den Krieg in Syrien beenden und wenn ja, wie?
Der Schlüssel für die Lösung liegt in der Region selbst, und nicht in den großen Staaten wie USA oder Russland. "Der vier Jahre lang vergessene Konflikt wird jetzt ganz schnell auch auf der Tagesordnung der Politik in Europa ganz oben stehen. Er ist mit den Flüchtlingen hier angekommen", sagt El-Gawhary.
Kommt mit den Flüchtlingen auch der IS nach Europa?
Der Islamische Staat ist eigentlich ein europäisches Exportprodukt. "Die IS hat genug Leute mit EU-Pass, die legal einreisen können und sich nicht über die Flüchtlingsrouten durchschlagen müssen", sagt El-Gawhary.
Karim El-Gawhary war auf Einladung der Initiative "Menschlichkeit im Böhmerwald", dem Katholischen Bildungswerk Rohrbach, Oepping und Arnreit und dem Stift Schlägl in Rohrbach zu Gast.
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