Psychotherapie / Psychologie
Toxische Scham und sich schämen

Ist es gesund, wenn ich mich schäme?

Scham ist grundsätzlich eine angeborene Grundemotion. Wir haben die Disposition zur Scham. Wir lernen die Scham am Ende des ersten Lebensjahres.

Grundsätzlich ist Scham also gesund, denn sie stellt ein gesundes soziales Gefühl und Regulativ dar, welches unser gesellschaftliches Miteinander ordnet. Die Scham fragt uns an, wem und wann und in welcher Situation wir uns Menschen öffnen sollen und wie viel wir überhaupt von unserer Intimität preisgeben möchten. So ist es ein wesentlicher kognitiver Entwicklungsschritt, wenn Kinder meist ab dem Grundschulalter eine gesunde Körperscham entwickeln, Nacktheit vermeiden, und nicht mehr wie Kleinkinder nackt herumtoben.

Fühlt eine Person keine gesunde Scham, so wie das meist bei Narzist*innen der Fall ist, dann sind wir peinlich berührt oder schämen uns stellvertretend fremd. Eine schamlose Person ist kein*e angenehme*r Zeitgenosse/Zeitgenossin.

In unserer narzisstischen Gesellschaft und Leistungskultur fühlen z.B. zu wenig Menschen eine gesunde Scham, wenn es um Intimes und Sexuelles geht.

Die Scham ist eine bedeutsame Hüterin unserer Würde und möchte uns und unsere Integrität schützen. Sie gehört zu einem gesunden Körperbewusstsein dazu. Scham schützt auch immer unsere inneren und äußeren Werte und Kostbarkeiten und verweist uns auf das Vorhandensein von eigenen Werten, die es zu schützen gilt. Zudem möchte die gesunde Scham unsere Person, deren Intimität und Würde bewahren. Es geht ihr um eine gute Distanz, um angemessene Grenzen, Achtung und Respekt. Wer Scham fühlt, der fühlt auch seinen Selbstwert und Wertschätzung gegenüber der eigenen Person.

Darum fühlen Menschen mit schweren Traumatisierungen und Störungen des Selbstwertes oft keine Scham, verhalten sich schamlos, beschämen andere und verletzen die Integrität, Würde und Grenzen ihrer Mitmenschen.

Schamlose Menschen sind in ihrem gestörten Narzissmus oft unerträglich. Sie haben zu wenig Empathie und gesunde Scham entwickelt. Nichts ist ihnen mehr peinlich, und sie können sich nicht in ihre Mitmenschen hineinversetzen. Dies zeigt, dass Scham ist ein wesentlicher Bestandteil unseres sozialen Miteinanders ist. Schamlosigkeit ist eine narzisstische Störung.

Traumatische und neurotische Scham

Wenn Eltern, Familien und andere Bezugspersonen ihren Kinder eine gesunde Scham behutsam und einfühlsam beibringen, so fördert dies Lern- und Entwicklungsprozesse. Arbeiten wir aber mit beschämenden Methoden der Schwarzen Pädagogik, so kann dies Kinder und Jugendliche traumatisieren. Sie schämen sich dann auch im Erwachsenenalter viel zu früh, zu schnell und auch wenn dies nicht angemessen oder begründet ist. Hier können wir auch von traumatischer oder neurotischer Scham sprechen.

Erwachsene Menschen schämen sich

  • wenn sie älter werden und ihr Körper nicht mehr den Schönheitsidealen des Jugendkultes entspricht
  • nach Scheidungen
  • wenn sie Singles sind
  • wenn sie zu wenig Sex haben
  • u.v.m.

Diese Schamgefühle werden fast immer stark von außen manipuliert.

Auch in der Sexualität spielen Beschämungen und Scham eine große Rolle. So schämen sich viele Menschen ihrer sexuellen Bedürfnisse, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer sexuellen Identität. Sie können dann nicht zu ihrer authentischen Lust, zu ihren personalen Bedürfnissen oder zu ihrer Identität stehen.

In einer Sexualtherapie geht es dann darum, wertschätzende und akzeptierende Räume zu schaffen, in denen offen über Sexualität gesprochen werden kann.

Wie entwickelt sich gesunde Scham?

Gesunde Scham zu entwickeln ist ein bedeutender psychologischer Schritt. Wenn Kinder anfangen sich zu bewegen und zu krabbeln, werden ihre Eltern restriktiver, damit den Kindern nichts geschieht. Das "Nein" und die Begrenzungen sind gesund. Kinder wollen und sollen explorieren, brauchen aber trotzdem diese Begrenzungen und klare Strukturen. Diese äußeren Strukturen geben dem Kind nämlich auch innerlich Struktur. Sie lernen, sich selbst und ihre Bedürfnisse gesund zu regulieren.

Eltern schauen auf einmal strenger und sorgenvoller, wenn Kinder drohen, sich zu verletzen. Kinder suchen in diesem Alter den begeisterten Blick der Eltern, oft kommt dann aber ein strenger, ernster oder sorgenvoller Blick. Das Kind kommt hierauf in einen Freeze-Zustand. Es friert ein.

Gesunde Eltern regulieren dann diesen Scham-Kollaps ihrer Kinder. Diese Scham ist gut und wertvoll, bedarf aber der Regulierung durch die erwachsenen Bezugspersonen. Der Freeze war somit evolutionsbiologisch sinnvoll und sicherte das Überleben der Kinder bzw. der Menschheit. Scham zu entwickeln ist ganz wichtig. Sie ist eine soziale Genese des Kindes.

Eltern sollten das Kind immer aktiv aus dem Freeze und dem parasympathischen Kollaps herausholen. Das Kind ist dann wieder ruhig, fühlt sich wohl und erkundet die Welt neugierig aufs Neue. Auf diese Weise lernen Kinder einen gesunden Umgang mit Ambivalenzen, Ambiguitätstoleranz und Frustrationstoleranz. In der Gehirnentwicklung tut sich in dieser Phase am Ende des ersten Lebensjahres also immens viel.

Eltern, die selbst unter Frühstörungen und Bindungstraumen leiden, regulieren ihre Kinder in diesem Freeze-State meist überhaupt nicht oder viel zu wenig. Das Kind bleibt im Freeze, kommt von selbst nicht mehr heraus und leidet unter Hilflosigkeit und existentieller Angst.

Video von Dami Charf: "Wenn Scham ein gutes Zeichen ist"

Toxische Scham als Bindungstrauma / Entwicklungstrauma

Toxische Scham entwickelt sich auch dann, wenn die Eltern ihr Kind gekränkt anschweigen. Dieses Silence Treatment gilt als schwere psychische Gewalt. Die Eltern bleiben streng, abweisend und kühl und manipulieren auf diese Weise ihrem Kind noch stärkere Scham, oft auch Schuldgefühle. Das Kind kommt in den völligen Totstellreflex und macht sich bereit zu sterben.

Kinder kommen von selbst nicht aus dem Scham-Kollaps heraus und lernen ohne die Co-Regulierung ihrer Eltern, dass sie falsch, einsam, verlassen und schlecht seien. Je öfters dies passiert, desto tiefer brennt sich die toxische Scham als neurologisches Muster ein.

Toxische Scham und Schuldgefühle sind klassische Traumafolgesymptome und stehen einem guten, erfüllten Leben massiv im Weg. Bei traumatischer Scham wollen wir eigentlich im Boden versinken und aufhören zu existieren. Wenn ich chronische Scham und Schuldgefühle spüre, dann kann ich davon ausgehen, unter einem Bindungs- oder Entwicklungstrauma zu leiden.

Was ist der Unterschied zur Schuld?

Schuldig fühlen wir uns für falsche Taten, die wir durch ent-schuldigen wieder gutmachen können. Die toxische Scham hingegen flüstert uns ein, dass wir als Person falsch seien. So ein innerer Monolog kann dann etwa wie folgend aussehen:

"Ich bin falsch. Irgendetwas muss mit mir falsch sein, ansonsten würden mich meine Eltern oder Bezugsperson liebevoller und besser behandeln.

Was ist Schamrage?

Schamrage und Schamhass entstehen dann, wenn die Hilflosigkeit zu groß, zu vernichtend und zu bedrohlich erlebt wird. Der Hass bzw. die Rage ist dann ein psychischer Selbstschutzmechanismus, eine innerseelische Reaktion auf Lebensgefahr und völlige Ohnmacht. Die Schamrage wird im Erwachsenenalter dann auch von Personen getriggert, die mit dem ursprünglichen Trauma nichts zu tun haben. Schamrage äußert sich in Abwertungen, Wutanfällen, Prügeleien, schweren Körperverletzungen bis hin zu Totschlag und Mord.

Fazit:
Keine Scham oder Schuldgefühle zu spüren ist ein Anzeichen einer schweren psychischen Erkrankung bzw. sogar eine Psychopathologie. Scham und Schuldgefühle helfen uns, tiefgehende zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Beide Gefühle ermöglichen es uns, uns in andere Menschen hineinzuversetzen, deren Perspektive einzunehmen, zu mentalisieren, zu validieren und sich empathisch zu verhalten.

Es ist also gesund, wenn wir uns schämen, wenn wir splitternackt unser Haus verlassen würden. Scham dient damit auch unserem Selbstrespekt und dem Respekt vor der Integrität der Mitmenschen.

Die giftige Scham jedoch zwingt uns dazu, unsere eigenen Bedürfnisse, unsere Würde und Integrität hintanzustellen und uns dadurch selbst abzuwerten.

Autor: Florian Friedrich
Psychotherapeut in Salzburg / Hamburg
(Existenzanalyse)

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