Als ich nur wenige Tage lang; ein Wunderkind war...
Die Literatur mich schon immer fesselte
und gefangen nahm.
Als Kleinkind ich sehr oft aus meinem Lieblingsbuch
mit farbigen Illustrationen vorgelesen bekam.
Wenn ich am Rockzipfel meiner Mutter hing
und meinen Schatz; mein Kinderbuch,
das mit farbenkräftigen fantastischen
und wahrheitsgetreuen bunten Bildern
vervollständigt war,
mal wieder meiner Mutter entgegen streckte mit der Bitte
mir wieder einmal daraus vorzulesen.
Lange zuvor habe ich mich darin mit den bunten Bildern vergnügt;
wollte dann aber auch, inhaltlich den Text
der Bildgeschichte erfahren.
Solange, bis das ich sie auswendig aufsagen konnte.
Die Handlung kam einer Zeremonie gleich,
zelebrierend, hautnah in den wohlig,
warmen Armen meiner Mutter ruhend - in Fürsorge und Geborgenheit.
Die gedruckten Buchstaben in den Momenten zu beweglichen Gestalten erwachten und Zugang fanden in meinem dunklen Lockenkopf.
Begierig nahm ich all die Wörter,
Sätze der Bildgeschichte auf und erlernte so das Lesen.
Dann kam die Tante zu Besuch, und Mama ging ins Krankenhaus,
um unser neues Baby heimzuholen.
Bevor sie ging sagte Mama noch zur Tante geschwind:
Lies der Kleinen am Abend vorm Einschlafen täglich aus ihrem Kinderbuch vor!
Dann war es Abend und Tante nahm ihr Versprechen wahr
und mit dem Buch in der Hand mich umklammert in den Armen hielt
und mit dem Lesen begann.
Der Geruch und die Stimme der Tante waren mir fremd, und so sagte ich schnell:
"Tante, ich werde dir aus meinem Buch vorlesen!"
Sprach ich und befreite mich aus der Umklammerung
und vertiefte mich in mein Bilderbuch. "Aber Kind!", sagte dann Tante verwundert: "Dass du das Lesen beherrscht mit deinen knapp fünf Jahren;
das kann ich kaum glauben!"
Dann plapperte ich los, imitierte Mamas Stimme
und blätterte auch die Buchseite an der richtigen Stelle um.
"Du bist ja ein Wunderkind!", rief dann meine Tante begeistert. Erst Tage später, als die Tante auf Abwechslung bestand, was die Auswahl der Literatur betraf, flog der Schwindel, was das Lesen betraf, schnell auf. Denn als Tante mich bat, aus einem anderen Buch ihr vorzulesen; sagte ich empört und belehrend: "Aber Tante, das Lesen lerne ich doch erst in der Schule!" Verblüfft und erheitert dann Tante sagte: "Nun, dann werde ich das Vorlesen wieder übernehmen!"
Hildegard Stauder
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