Kommentar
Ischgl, nur umgekehrt

Christian Marold
RZ-Chefredakteur | Foto: RZ

15. Juni 2019. Die gemütliche Autofahrt von Feldkirch nach Florenz ist im Prinzip schon ein Teil des Kurzurlaubs. Die Strecke bis nach Mailand ist ein Katzensprung und kennt man schon fast im Schlaf. Wobei sich die Landschaft bis nach Mailand so oft ändert, dass an Schlaf nicht gedacht werden möchte. Alle Grenzen werden ohne Probleme passiert und der Stau von der Schweiz nach Italien ist überschaubar gering. Hinter Mailand wird die Fahrt etwas mühsamer, aber das Ziel hat man immer vor Augen. Am 15. Juni 2019 fand ein Konzert in Florenz statt. Das Konzert war Teil eines Festivals an vier aufeinanderfolgenden Tagen. Insgesamt kamen an diesen Tagen knapp 200.000 Menschen zusammen. Fast ein Jahr danach hätte dieses Festival eigentlich wieder stattfinden sollen. Stand heute: undenkbar!

15. Juni 2020. An eine Reise nach Italien ist derzeit nur bedingt zu denken. Immerhin sollen die Grenzen Vorarlbergs zu unseren unmittelbaren Nachbarn wieder öffnen. Das ist wichtig, denn unsere Kinder vermissen ihre Großeltern, die in Deutschland leben.

Was bewirkt diese teilweise Grenzöffnung? Nun, es gibt einem das Gefühl der Freiheit. Der Reisefreiheit. Was für ein wertvolles Wort. Meine Schwiegereltern zum Beispiel haben nach 1989 dieses Wort erst so richtig schätzen gelernt. Davor waren sie Gefangene im eigenen „demokratischen“ Land. In der DDR.

Am 15. Juni öffnen also wieder die Grenzen. Ohne Passkontrolle, ohne mit schlechtem Gewissen die Grenze zu überqueren. Das hat viel mit Kopf-Kino zu tun. Die Gewissheit zu haben, es einfach tun zu dürfen. Toll!

Der Tourismus und der Handel hofft mit dieser Öffnung natürlich den ersehnten Aufschwung. Bis jetzt war alles nur ein Pokerspiel mit sehr schlechten Karten, und ein gutes Pokerface half in dieser Situation auch nicht wirklich.

Am 15. Juni dürfen sie nun also wieder kommen. Unsere lieben Touristen, ob im Gastgewerbe oder im Handel. Werden wir am 15. Juni auch in ganz Vorarlberg die Straßen beflaggen und jeden einzelnen Gast in unserem wunderbaren Ländle mit Tracht und Lederhosen begrüßen? Jeder ausländische Gast sollte an der Grenze mit einem Stamperl Schnaps begrüßt werden. Jeder Ort sollte seine Blasmusikkappellen aufspielen lassen, um alle mit lautem Getöse willkommen zu heißen. Wir halten zusammen! Hashtagwirliebeneuchalle!

Spätestens am 15. Juni will keiner mehr etwas über Corona oder Maskenpflicht, Eindämmung oder R-Faktor hören. Genug ist genug. Das wird der Tag sein, an dem eine Erkältung eine Erkältung ist, mehr aber auch nicht. Wer nach dem 15. Juni von Neuinfektionen spricht oder gar einem möglichen zweiten Shut-Down wegen der erhöhten Zahl an COVID-19-Patienten, hat aus dem Prinzip Hoffnung nichts gelernt. Denn ganz ehrlich: Wer, wie wir alle, solange auf Normalität hoffen musste, kann auch irgendwann einmal ein Ende erwarten. Das haben wir uns alle verdient. One for the road mit einem Glasl Schnaps!

Was aber, wenn genau diese Öffnung uns ein zweites nationales Ischgl beschert? Nur eben umgekehrt. Die Gefahr ist da und das Risiko noch viel mehr.

Wir sollten uns gedanklich also auf alles vorbereiten. Auf das was kommen wird und auf das, was kommen könnte. Eines sollten wir aber versuchen nicht zu vergessen: Wie schnell Grenzen geschlossen werden können, wie schnell unsere geliebte Freiheit ein- und beschränkt werden kann. Das hat weder was mit Ballermann oder Apres Ski zu tun, sondern vielmehr damit, manchen Wünschen nachzugehen zu können und sie vielleicht irgendwann einmal zu erfüllen.

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