"Ein unglücklicher Versuch, Autonomie zu erlangen"

Wer von Anorexie betroffen ist, hat zumeist ein verzerrtes Bild vom eigenen Körper. | Foto: Fotolia/RioPatuca
  • <b>Wer von Anorexie</b> betroffen ist, hat zumeist ein verzerrtes Bild vom eigenen Körper.
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GRIESKIRCHEN. Adrian Kamper ist Leiter der Kinder- und Jugendpsychosomatik im Klinikum Wels-Grieskirchen. Wessen Kind von einer Essstörung betroffen ist, dem rät Kamper, nicht lange mit der Suche nach Hilfe zu warten.

BeziksRundschau: Die am häufigsten auftretende Essstörung ist die Magersucht. Welche Arten gibt es denn noch?

Kamper: Unter Essstörungen wird im Volksmund meist die Magersucht gemeint, teilweise auch die Brechsucht oder Bulimie. Auch die sehr selektive Auswahl von, teils gesunden, Lebensmitteln kann krankhaft sein. Es gibt auch restriktive Esser, die immer nur kleine Portionen zu sich nehmen. Über viele Kinder sagt man ja, er oder sie war ja immer schon ein kleiner Esser. Ändert sich das aber bis zur Pubertät nicht, bekommen sie zu wenig Energie. Auch bei Übergewicht haben zwei Drittel der Betroffenen Essstörungen. Das sind Kontrollstörungen, Betroffene verlieren die Kontrolle über Essmenge und -Zusammensetzung.

Wie viele Kinder und Jugendliche sind von Magersucht betroffen?

Man muss es von der Schwere der Erkrankung aus sehen. Schwere Formen der Magersucht treten bei ein bis vier Prozent der Kinder und Jugendlichen auf. Mit zwölf bis 15 Jahren beginnt die Magersucht meistens. Leichtere Formen betreffen bis zu zehn Prozent und 50 bis 70 Prozent haben einschlägige Diäterfahrung. Manche verlieren die Fähigkeit, die Diät zu beenden und rutschen in die Magersucht ab. Wir haben auf unseren zwölf Behandlungsplätzen immer zwischen drei und sechs Patienten mit Anorexie. Mädchen sind zehnmal häufiger betroffen als Burschen.

Welche Gründe gibt es für diese Essstörung?

Das ist wie ein Puzzle, es gibt nie nur einen Grund, sondern mehrere spielen zusammen: Einer ist die Entwicklung im Jugendalter, man muss alles verändern und bildet seine Identität. Essstörung ist ein unglücklicher Versuch, Autonomie zu erlangen. Gewisse familiäre Faktoren wie Leistungsorientiertheit fördert dies auch, aber die Familie, die Magersucht produziert, gibt es nicht. Das war ein lange herrschender Irrglaube. Entwicklung, Persönlichkeit, Familienstruktur und der Freundeskreis zählen zu den Gründen. Innerhalb des Freundeskreises gibt es ja Konkurrenzdenken wie: „Wer ist die Dünnste?“ Dies ist einer der Hauptfaktoren. Es gibt aber nie nur einen Grund.

Als Erwachsener nimmt man die Entwicklung wahr, dass das Bewusstsein über zu dünne Models und ungesunde Schönheitsideale stärker wird. Setzt sich das auch bei Kindern und Jugendlichen vermehrt durch?

Nicht unbedingt. Wenn es in der Schule zum Beispiel die gesunde Jause gibt, redet man zwar immer davon, wie gesund sie ist. Aber der für Essstörung sensible und empfindliche Teil hört das Diätdenken heraus und lebt das auch. Das größte Risiko einer Diät ist das Reinrutschen in die Magersucht.

Was können Eltern versuchen, wenn sie merken, dass ihr Kind eine Magersucht entwickelt?

Offen darüber reden, dass auffällt, dass sich das Essverhalten verändert hat. Man sollte nicht die Kontrolle über das Essen zuhause dem Kind überlassen. Betroffene haben ja die Tendenz, den Einkauf kontrollieren und übernehmen zu wollen und Kalorien zu zählen. Eltern sollten dem Kind das Gefühl geben, dass sie die Chefs in der Küche sind. Betroffene Kinder gehen sehr trickreich vor. Wenn das Kind beginnt, ungewöhnlich häufig auf die Toilette zu gehen, weites Gewand anzuziehen oder Essen verschwinden zu lassen, dann sollte man Hilfe suchen. Auf keinen Fall sollte man das Kommando abgeben.

Sie sollten aber wahrscheinlich auch nicht zu viel kontrollieren und jedes Mal darüber meckern.

Wenn das über Tage geschieht, sollten die Alarmglocken läuten und darauf sollen die Eltern reagieren. Die Erfolgschance ist weit größer, wenn man zeitgerecht mit einer Therapie beginnt. Die Prognose hängt davon ab, wie ausgeprägt das dysfunktionale Denken des Kindes oder Jugendlichen bereits ist. Und wenn es schon so weit gekommen ist, dass sich die Eltern ständig über das Essverhalten des Kindes aufregen, heißt das doch, dass Hilfe angebracht ist. Wenn es sich nach zwei, drei Wochen nicht wieder einrenkt, sollte man sich also Hilfe holen. Für mich ist es ein Phänomen, dass bei Magersucht so lange zugesehen wird.

Was können Eltern zur Vorbeugung tun?

Erziehung ist mit 13-15 Jahren normalerweise gelaufen. In diesem Alter tritt Magersucht meistens auf. Wichtig ist die von Beginn an herrschende Familiendynamik. Sie sollte offen, transparent und wertschätzend sein und nicht einengend, zwanghaft und angsthaft. Auch Anerkennung und Vertrauen ist wichtig. Genau in der Pubertät, der Phase der Loslösung von den Eltern, sind manche so verstrickt oder unglücklich verbunden mit der Familie, dass sie sich Autonomie schaffen über das Hungern. Bestätigt werden sie darin auch noch, indem der Freundeskreis es gutheißt.

Wenn Eltern nicht mehr weiterwissen, wie sie das Problem lösen sollen, wo sollen sie dann am besten hinkommen?

Wenn das Thema Essstörung im Raum steht, sollen sie bei uns am Vormittag anrufen. Wir prüfen die bekommenen Daten an und rufen zurück. Es sei denn es ist ein schwerer Fall, dann kommt es sofort zur Aufnahme. Hinter einer Magersucht kann auch eine körperliche Erkrankung stehen. Zuerst gibt es medizinische Untersuchung, Diagnose, Gespräche und dann erst die Behandlung. Das spielt sich aber binnen weniger Tage ab.

Es gibt also Fälle, wo Eltern sicher sind, dass das Kind Magersucht hat, obwohl es genug isst und wegen einer anderen Krankheit zu dünn ist?

Ja, das können zum Beispiel Tumore oder Darmerkrankungen sein, oder auch Hormonveränderungen. Es gibt also genügend Erkrankungen, die zuerst abgeklärt gehören und wenn jemand so dünn geworden ist, muss man sich ansehen, welche Folgen die Essstörung schon herbeigerufen hat: Wie schnell das Herz noch schlägt, wie dünn die Knochen sind, ob die Haare ausfallen, ob das Hirn schon geschrumpft ist. Bei Mädchen kann auch die Regel dadurch ausbleiben. Erst, wenn das alles abgeklärt ist, kann es zur Therapie übergehen.

Welche ist die erfolgversprechendste Therapie?

Es gibt keine Form, die die Magersuchtstherapie schlechthin ist. Die Familie gehört auf jeden Fall mit dazu, aber natürlich finden Verhaltenstherapeuten ihre Wege am besten. Ich meine, die Einbeziehung der Familie in die Therapie verspricht den größten Erfolg. Das ist der systemisch-familientherapeutische Ansatz. Medikamentöse Therapien sind nicht erfolgreich, Antidepressiva sprechen nicht an. Es ist jedenfalls ein langer Weg, auch die Verträglichkeit auf größere Essmengen kommt nicht von heute auf morgen wieder zurück.

Wie groß ist die Heilungschance?

50 bis 60 Prozent erfahren eine Heilung, je nachdem ob es bereits Begleiterkrankungen gibt. Langzeitfolgen sind bei 15 Prozent immer noch tödlich, das ist ein Wert wie bei der kindlichen Leukämie.

Was sind die ersten Anzeichen für die Familie?

Die Frühwarnsignale sind die Veränderung des Essverhaltens am Familientisch, das Vermeiden von fetthaltiger Nahrung, Rückzug ins Zimmer und großes Interesse an der Kalorienanzahl in Lebensmitteln. Ein Phänomen ist es auch, das eigene Zimmer im Winter kühl zu halten, um viel Energie zu verbrauchen oder im Sommer viel anzuziehen, um vermehrt zu schwitzen.

Ab wann gilt ein Kind oder Jugendlicher als magersüchtig?

Die angesprochenen Anzeichen sollten für Eltern bereits ausreichen, um es abklären zu lassen. Für uns sind 15 Prozent Gewichtsverlust beispielsweise ein Richtwert.

Wie schwer ist es, Jugendlichen klarzumachen, dass sie an Magersucht leiden?

Wenn der eigene Wahrnehmungsmodus ein kranker wird und einem das Abnehmen gefällt, erlebt man Gewichtsverlust als Belohnung. Wegen dieser Belohnung ist die Einsicht gering, aber ein gewisser Anteil gesunden Denkens ist immer noch da. Es geht darum, diesen Teil zu identifizieren und zu stärken. Das ist das Therapieprinzip.

Was ist die Kernaussage, die Sie einem betroffenen Kind mitgeben?

Über den Hunger Probleme lösen zu wollen, ist ein äußerst ungesunder Weg. Wähle einen gesünderen, um zu deiner Identität zu finden. Ein gesunder Selbstwert ist durch die Magersucht nicht zu erreichen.

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