Bissgurn im Musikverein, Proms im Konzerthaus, jöh
Ich bin heute blendend disponiert - glaube ich. Das erwarte ich mir auch von meiner Umgebung: vom Billeteur, von der Garderobefrau, die mich anstarrt, als wäre ich nicht von heute (wahrscheinlich war sie vorher am Naschmarkt und hat saure Äpfel gekauft), von einer Sitznachbarin, die einen Moschus-Knaller auf ihrem Leib trägt, als wäre sie die Freundin von Justin Bieber, und natürlich auch vom Dirigenten. Doch der ist über jeden Verdacht erhaben. Bevor ich in den Genuss seines Dirigats komme, stapfe ich trotz Verstauchung einer Extremität heute leichtfüßig die paar Stufen zum Großen Saal des Musikvereins hoch.
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Wie wahr - auch wenn man hintereinander sitzt. Doch dazu später. Das Tonkünstler Orchester Niederösterreich hält Kurs auf Richard Strauss und Alban Berg - prägende Komponisten der neuen Konzertliteratur um die Jahrhundertwende und auch noch in späteren Jahren. Das Vorspiel zur Oper „Capriccio“ und „Sieben frühe Lieder“ lassen mich noch nicht so richtig warm werden. Die Sopranistin Malin Hartelius singt zwar mit viel Schmelz in der Stimme, aber mit undeutlicher Aussprache - der Funke will nicht überspringen.
Schon während des ersten Teils des Konzertes sehe ich in der fußfreien Reihe Plätze, die nicht besetzt sind. In der Pause entern wir diese, und mein beleidigter Fuß kann sich endlich entfalten. Eine altersmäßig etwas fortgeschrittene Bissgurn macht sich daraufhin wichtig. Sie bemerkt den Plätzetausch und scheut sich nicht, mir mit einer Bemerkung fast den Abend zu vergällen: „Die“ - wer immer damit gemeint ist, wahrschlich Stehplatzbesucher - „sind schon wieder da.“ Ist sie die Platzanweiserin mit schicker Garderobe? Oder: Neben mir dulde ich nur Vollzahler! Ich bin mit meinen Leben unzufrieden, deshalb geifere ich meine Umgebung an! Die noble Dame hat weder ihren Mitmenschen, noch den Künstlern gegenüber Respekt. Schon während der letzten Takte wackelt sie im Opernballschritt aus den Saal. Das ist uncool, vielleicht auch ein wenig deppert. Fast hätte ich mich geärgert. Und mein Konzertpartner war wütend, seine despektierliche Bemerkung verschweige ich lieber. Der Auftritt der Xanthippe ist vergessen. Es erwartet mich Gustav Mahlers 1. Symphonie in D-Dur.
Manche meinen, man soll die Lehrlingsarbeit Mahlers meiden, weil sie unausgegoren, ja sogar stümperhaft sei. Mahler änderte zwar das Werk immer wieder, was auf eine große Unsicherheit schließen lässt, aber im Kern bleibt es gleich. Der Blick ist auf Beethoven gerichtet - damals das Maß jedes musikalischen Schaffens. Dann wiederum mit Fernsicht auf Schönberg, Berg und Alexander Zemlinsky. Auch durch seine zahlreichen Reisen ist er mit vielen Eindrücken konfrontiert. Der Weiberheld Mahler ist von vielen Stilrichtungen, aber auch von manchen Frauen beeinflusst, wobei er ein sehr konservatives Weltbild hat: Frau an der Herd, Mann sorgt für die Familie. Kein Wunder, dass die Ehe mit seiner selbstbewussten Frau Alma nicht lange hält. Er ist Jude, der zur katholischen Religion konvertierte, um Anfeindungen zu entgehen. In der Musik findet er seine Bestätigung und bringt in ihr sein vielfältiges Gefühlsleben zum Ausdruck. Es ist ein ziemliches Wirrwarr an Gefühlen. Im ersten Satz begrüßt der Komponist den Frühling. Dann folgen volkstümliche Weisen, kräftig intoniert. Im zweiten Satz lautet sein Edikt: feierlich und gemessen, ohne zu schleppen. Der Stimmungswechsel zum Todesmarsch kommt unverhofft, martialisch, von „lieblichen“ Tönen unterbrochen - ein Auf und Ab der Emotionen. Der Finalsatz führt zum Anfang zurück. Stürmisch, bewegt, choralartig entlädt sich die volle Kraft des gesamten Orchesters. Patrick Lange meistert Mahlers Ausdruckpalette am Pult in beeindruckender Weise. Chapeau, Maestro! Zum Schreiben meiner Kritik lege ich mir die CD mit Mahlers Symphonie Nr. 1 in den Player, um diese Stimmung im Ohr zu haben.
Next: Am 9.4.2015 im Musikverein und am 11.4. in Grafenegg lädt Andrés Orozco-Estrada, der Noch-Chefdirigent des Tonkünstler Orchesters Niederösterreich, zu einem musikalischen Spaziergang ein.
Der Ausnahmedirigent steht am 22.6.2016 am Pult der Wiener Philharmoniker im Konzerthaus.
Infos und Tickets:
www.toenkünstler.at
www.grafenegg.com
KULTURNOTIZEN AUS DEM WIENER KONZERTHAUS
Die Programm-Pressekonferenz 2015/16 des Wiener Konzerthauses ist voller Überraschungen. Intendant Matthias Naske präsentierte unprätentiös die Highlights der kommenden musikalischen Ereignisse. Neben Altbewährtem werden einzigartige Stimmen - Thomas Hampson ist einer von ihnen - dem Haus Glanz verleihen. Ein Proms-ähnliches Steh-Konzert der Wiener Symphonikern am 11. Juni 2016 um 14,30 soll die Betriebstemperatur in der kommenden Monaten deutlich erhöhen. Die traditionellen Proms in der Londoner Royal Albert Hall sind Ausdruck befreiter Kultur, der Inbegriff einer crossartigen musikalischen Ausprägung, eines dünkellosen Freiraums. Es zu hoffen, dass diese Lebensfreude, das Supradyn für die Seele, nach Wien überschwappt, um das Publikum zu erfreuen. Neben zahlreichen Stimmen finden die Wiener Symphoniker und interessante Gastorchester eine Heimstatt. Sehr wichtig ist dem Intendanten die Jugendarbeit. So soll eine neue Generation künftiger Konzertbesucher aufgebaut werden. Eine neue Homepage verbessert den Kundenservice. Kennen Sie das? Es wird eine Zugabe gespielt, sie kennen die Melodie - verdammt noch mal, ich weiß es, aber nicht im Moment. Smartphone-Besitzer können zeitnah Nachschau halten, die anderen loggen sich zu Hause am Laptop ein und können nachlesen - wichtige Instrumente zur Unterstützung des Gehirns.
Aktuell kündigt sich ein Konzertabend mit Diana Damrau an. Am 15. April ist die gefeierte Sopranistin im Konzerthaus zu Gast. Wer sie in Bizets „Die Perlenfischer“ („Les pêcheurs de perles“) im Theater an der Wien gehört und gesehen hat, kann keinen Zweifel haben, dass hier eine singuläre Sängerin Wien mit ihrer Stimme bereichert. Und wer keine Karten mehr erhält, kann sie in dieser Oper in einem der Cineplexx-Kinos am 16. Jänner 2016 bei einer Liveübertragung aus der Met in New York bewundern. Die Mutter von zwei Kindern ist eine Anti-Diva, in den Interviews unkompliziert, freundlich, erdig. Ihre Crossover-Auftritte - einerseits ein Liedchen des Blumenmädchens Eliza aus „My fair Lady“, andererseits die Wahnsinnsarie aus „Lucia di Lammermoor“, oder ein Konzert bei der Echo-Gala – sind großartig. Sie kann aus dem Vollen schöpfen.
Infos und Tickets: www.konzerthaus.at
DAS JUNGE ENSEMBLE HÖRBIGER
Das Junge Ensemble Hörbiger musste kürzlich aus dem Hörbigerhaus im 19. Bezirk ausziehen. Das Kollektiv bleibt erhalten (jöh), so dass die jungen Künstler weiter an ihrer Karriere basteln können. Neue Heimstatt ist die Zacherlfabrik (www.zacherlfabrik.at) - ebenfalls im 19.Bezirk. Dort wird man als erste Produktion „Merlin oder das wüste Land“ von Tankred Dorst spielen. „Tankred Dorst ist ein erfolgreicher zeitgenössischer deutscher Autor, und wir freuen uns, dass wir von Suhrkamp die Aufführungsrechte für die Zacherlfabrik im Juni bekommen haben“, freuen sich die Protagonisten. Merlin wurde 1982 in Deutschland uraufgeführt und 2000 in Wien im Akademietheater gespielt und steht immer wieder am Spielplan deutschsprachiger Bühnen und jetzt am Programm - jöh! Der Autor schreibt: „Merlin ist eine Geschichte aus unserer Welt: das Scheitern von Utopien“:
In der Zacherlfabrik scheint sich der ideale Spielort für die zauberhafte, mystische und teilweise absurde Atmosphäre des Stücks gefunden zu haben. Wer dieses Märchen für Erwachsene sehen will, muss sich in die Nusswaldgasse 14 in den 19. Bezirk bewegen. Premiere ist am Freitag, 12. Juni 2015, 20:00 Uhr; weitere Vorstellungen: 14., 18., 19., 20., 21., und 25., 26., 27. 28. Juni 2015
Infos und Karten gibt es ab sofort unter office@junges-ensemble.at
www.junges-ensemble.at
RH
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