Boston meets Grafenegg: Berechtigtes Bravo-Geschrei
27.08. - Ein lauer Wüsten-Abend breitet sich über den Wolkenturm aus. Die Frauen holen die bereits nach Mottenkugeln duftenden Kleidchen aus dem Schrank, die Männer schwitzen unter den Achseln - trotz Nivea-Antitranspirant-Deo ohne Aluzusatz. Sie jubeln alle, der Applaus will kein Ende nehmen. Die Bravorufe werden nur durch einen schweren Sturz einer betagten Dame eingedämmt.
Diese heftigen Emotionen löst Andris Nelsons am Pult des Boston Symphony Orchestra aus. Er dirigiert Mahlers Sechste mit Bravour und Empathie. Das Orchester ist auf Europa-Tournee - erstmals seit 2007. Nach den Salzburger Festspielen sind sie nun in Grafenegg. Boston meets Grafenegg: Berechtigtes Bravo-Geschrei.
Nelsons, dessen Vertrag beim den Boston Symphony Orchestra vorzeitig erweitert wurde, wird nächstes Jahr bei den Bayreuther Festspiele tätig werden.
Der in Riga geborene Jungstar hat seine Meriten schon mit 24 Jahren als Direktor der lettischen Staatsoper unter Beweis gestellt. Der Karriereaufstieg erfolgte in Jahresschritten. Ihm gebührt aller Respekt, wenn er Werke wie Mahlers „Tragische“ in dieser Form zur Aufführung bringt, nämlich brillant, mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit. Das in der Nähe von Klagenfurt geschriebene Werk birgt viele Geheimnisse, Verzweiflung und Unsicherheit, was sich musikalisch in der Ausdrucksskala nachvollziehen lässt . Ein Auf und Ab, Gefühle geben Rätsel auf, verinnerlichte Unergründlichkeit. Mahler stand damals am Höhepunkt seiner Schaffenskraft, und doch ist das Werk voll Düsterheit und Trauer. Das Boston Symphony Orchestra bringt diese Ambivalenz prachtvoll zum Ausdruck. Ein gutes Orchester lernt man am besten in leisen Passagen kennen. Im 3. Satz erfährt man eine Überdosis an musikalischer Zärtlichkeit, Pianissimo, leise zarte Töne, alle Orchestergruppen hört man wunderbar. Das Werk wird von einem der besten Orchester gespielt. Freilich ist Nelsons kein Weichzeichner, was in einem bösen Verriss im „Standard“ zu lesen ist. Er ist eine Autorität im Ensemble und im Publikum. Der Schlusston ist verklungen, es ist mucksmäuschenstill, kein Huster, keine Aufwallung, kein lautes Atmen - 10 Sekunden Stille, der Dirigent verharrt in tonloser Ruhe , erst dann bricht der Jubelorkan aus. Blech- und Holzbläser, die Schlagerwerker werden extra vor den imaginären Vorhang gebeten. Die Temperaturen sind etwas abgekühlt, die Bravorufe nicht.
Next: 03.09., 19 Uhr: Die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Semjon Bychkov spielen Haydn • Wagner • Brahms. Solistin ist Elisabeth Kulmal.
Infos und Tickets: www.grafenegg.com
Reinhard Hübl
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