Grafenegg: eine russische Sommer-Nacht
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> Sahara-Temperaturen in Grafenegg . Na und, es ist Sommer. Einige
> Männer im dunklen Anzug, Damen in opern-ball-ähnlichen Kleidern sind
> besonders gefordert, dem Konzert zu folgen. Es ist halt so: Wer selbst
> bei den Freiluft-events die Business-Tracht nicht ablegen will, dem
> ist nicht zu helfen. Ich habe nur einmal den Fehler gemacht, und zwar
> bei meinem ersten Besuch bei den Bregenzer Festspielen auf der
> Seebühne. Damals nicht wissend wie man sich für solche Anlässe richtig
> bekleidet, komme ich in Gala-Uniform, Smoking, Masche am Hemd, die
> besten Schuhe aller Zeiten. Ich bin verwirrt, als ich bemerke, dass
> ich und mein Co eindeutig overdressed sind. Die echten Insider sitzen
> da und warten guten Gemüts auf den vorhergesagten Wettersturz, der am
> Bodensee keine Seltenheit ist. Ein paar Dodeln sehen aus so wie wir.
> Auf der Tribüne hebt ein unterdrücktes Lachen an ob unserer
> Aufmachung. "Der fliegende Holländer" startet, die ersten Tropfen
> fallen. Zuerst still, dann heftig. Unsere Gala-Aufmachung inklusive
> erstklassiger Lack-Schuhe fällt dem Wasser zu Opfer. Schnellstens
> flüchten wir von unseren teuren Plätzen vis-a-vis der Hauptbühne zu
> den Ausgängen, von wo wir das Geschehen nass aber geschützt von
> weiteren Mengen des sonst so kostbaren H²O verfolgen können. Auf der
> Bühne geht der fliegende Holländer unverdrossen weiter. Warum auch
> nicht. Richard Wagner schrieb die Oper unter dem Eindruck einer
> stürmischen Schiffsreise. Wir halten durch bis zur der Stelle, wo
> Senta im Bodensee landet.
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> Konzentrieren wir uns trotzdem auf die Bühne in Grafenegg. An der
> Seite des Kritikers ist heute der Dirigent und Gründer der "Jungen
> Philharmonie".
> Dieses Orchester ist der Nährboden für eine neue Musikergeneration.
> Fünf ehemalige Schützlinge findet er im Team der
> Niederösterreichischen Tonkünstler. Junge Menschen mit Musikausbildung
> können sich für die Aufnahme in die "Junge Philharmonie bewerben.* Der
> Bericht von der russischen Nacht in Grafenegg, den Sie gerade lesen,
> stellt das Ergebnis der Diskussion und der gemeinsamen Eindrücke von
> einem Schaffenden (Dirigent) und einem Konsumenten (ich) dar.
>
> Gleich vorweg: die Tonkünstler spielen heute anders als sonst. Nicht
> besser, nicht schlechter, schlichtweg anders. Liegt es an der Hitze?
> Liegt es am Dirigenten? Statt dem quirligen Chef-Dirigenten Andrés
> Orozco-Estrada steht heute der bedächtige Vladimir Fedoseyev am Pult.
> Das sind alles nur theoretische Überlegungen. Von der Programm-Idee
> einen russischen Dirigenten und russische Solisten für russische Werke
> zu nehmen, ist nichts Abwegiges zu erkennen. Ganz im Gegenteil, nichts
> kann so gut die russische Musik zum Ausdruck bringen wie die slawische
> Seele eines Künstlers. Wer sonst könnte die Weite, die Sehnsucht, den
> Schmerz, Verzweiflung und die Freude, die russische Genies in ihren
> Tönen eingeschlossen haben, zu befreien wissen und auf das Publikum zu
> übertragen ?
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> "Es ist mir unmöglich, mich mit anderem zu beschäftigen; ich bin von
> Musik besessen. Wenn ich nicht komponieren könnte, hätte ich den ein
> Eindruck, meine Zeit zu verlieren", sagt der frühreife Komponist Alexander K.
> Glasunow, von dem das kurze Werk "Chant du menestrel" zu hören ist.
> Vor der Pause dominieren und brillieren die Solisten Narek
> Hakhnazaryan (Chello) und Daniil Trifonov (Klavier) das Programm. Es
> sind preisgekrönte junge Musiker, die nach Grafenegg gekommen sind, um
> der kleinen Welt rund um Wien zu zeigen, was ambitionierte Künstler
> zustande bringen. Der eine schließt die Augen und versinkt in einer
> anderen Welt, wenn er unglaublich berührende Töne, wenn er sein
> Instrument wie eine geliebte Frau umarmt und das Publikum in
> unendliche Weiten Russland entführt. Der andere weckt uns aus diesem
> Traum mit gewaltigen Kapriolen, hämmert auf den Steinway-Flügel ein,
> und bringt so die andere Seite der russischen Seele zum Ausdruck. Wir
> spüren um uns die Verzweiflung und gewaltigen Kampf gegen die
> Unterdrückung, der mit Gemütlichkeit und Sanftheit der weißen
> Birkenwälder und Wolgas ruhigen Laufes endet. Der heftige Beifall für
> dieses Seelenkino ist der Lohn für diese einzigartigen Darbietungen.
>
> Tschaikowskis Kammerspiel -Rokokovariationen wären wohl besser im
> Mozartsaal des Konzerthauses aufgehoben. Bei diesem feinsinnigen Werk
> stört sogar das Zirpen der Grillen. Sergej Rachmaninows Paganini
> Rhapsodie und Tschaikowskis wuchtige Symphonie h-moll aus dem Jahr
> 1885 machen die russische Nacht in Grafenegg zu einem Ereignis.
>
> Der zunehmende Mond lächelt milde und zufrieden auf Grafenegg herab.
> Die Grillen beginnen soeben ihr Konzert und freuen sich, dass die
> langsam abgehenden Menschen ihre Musik nicht mehr stören. Die Natur
> hat von den Tonkünstler nahtlos die Aufgabe übernommen und braucht
> sich mit ihrer Darbietung nicht zu verstecken. Gute Nacht Grafenegg !
> Bis zu nächsten wunderbaren, musikalischen Abend an diesem zauberhaften Ort.>
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> *Interessenten melden sich unter www.jungephilharmonie.at. >
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> Reinhard Hübl
Freier Journalist
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