Volkstheater: Eine schrecklich grausame Familie
„Ratgeber für den intelligenten Homosexuellen zum Kapitalismus und Sozialismus mit dem Schlüssel zur heiligen Schrift“. So lautet der Titel der neuersten Produktion des Volkstheaters. Was soll man sich darunter vorstellen? Interessant oder nichts? Letzteres dürfen sich viele Volkstheater-Freunde gedacht haben, so schütter war die Vorstellung am Montag den 25. Februar besucht. Beginnen wir mit dem Autor Tony Kushner. Nein, nicht der Ashton Kutcher von „Two and a Half Men“. Kusher ist der Autor und Drehbuchschreiber unter anderem von „Angels in America“ mit dem er weltbekannt wurde, und dem neuen Film „Lincoln“ (läuft derzeit in Wien). Er wurde in der Kategorie "Bestes Drehbuch" für den Oscar nominiert. Man könnte den Ratgeber auch als „Farce über das Leben und Sterben eines alten Mannes“ nennen. Wobei das mit dem Sterben nicht so recht gelingt.
Die Protagonisten des verzwickten Familiendramas:
Augusto Giuseppe Garibaldi Marcantonio (auch Gus genannt) traktiert die Familie mit Erinnerungen aus seiner Hafenarbeiterzeit, dem Kampf gegen die Unternehmer wegen der ungerechter Arbeitsbedingungen (= Sozialismus/Kommunismus?), dann mit einer eingebildeten Alzheimererkrankung und mit Sehnsucht nach Selbstmord (= Schlüssel zur heiligen Schrift?). Der Alzheimer dient als Begründung für seinen geplanten Selbstmord, den er von der Familie abgesegnet wissen möchte. Dafür stellt er ihnen eine Falle. Er will jedem eine halbe Million Dollar vererben, die der Verkauf des alten Familienanwesens einbringen würde. In Wahrheit quälen Gus Selbstvorwürfe, weil er bei einem Streik seine Kumpels im Stich gelassenen hatte. Es wäre nicht Kusher, wenn er nicht dieses Motiv auf elegante Weise für die Handlung ausnützen würde. Michelle – eine junge Dame, die Gus bei einem Besuch in einer Bar kennenlernt, will ihm beim geplanten Suizid helfen. Sie erklärt Gus, wie er mit 800 Schlaftabletten und einem Erstickungssack hantieren sollte, um diese Welt friedlich und elegant und ohne körperliche Ausscheidungen zu verlassen. Michelle ist die Frau einer dieser Männer, die beim Arbeitskonflikt mit den Unternehmern entlassen wurde. Dessen Leben wurde zerstört, und er tötet sich auf jene Weise, die sie Gus vorschlägt. Gus – ein einfacher Hafenarbeiter - übersetzt aus dem Lateinischen Horaz und findet in den griechischen Schriften die Bestätigung für sein Vorhaben.
Pier Luigi Marc Antonio, Gus‘ Sohn (auch Pill genannt), mischt sich nur selten ins Familiengeschehen ein. Er hat eigene Probleme. Der Homosexuelle hat einen Ehemann, mit dem es – unausgesprochen – nicht mehr so richtig klappt. Er findet den Stricher Eli Wolcott, in den er sich verliebt. Pill findet es aufregend, dem Stricher für seine Dienste Geld zu geben. Es ist ihm egal, dass er dafür 30.000 Dollar, die er von seiner Schwester erhalten hat, dafür ausgibt. Er hat durch den Stricher den Kick, den er braucht, um sich lebendig zu füllen. Nach dem Versuch, eine Dreier-Beziehung mit dem Sanctus des Ehemanns Paul aufzubauen, kehrt er doch zu seiner 26-jährigen Beziehung zurück. Diese Erfahrungen ist die Basis für einen Ratgeber, den er schreibt, statt seine Doktorarbeit zu beenden. Der Stricher ist enttäuscht und bleibt zurück.
Ich will jetzt schneller fortfahren, obwohl jede der vielen unterschiedlichen Handlungen des ausgezeichneten Stückes(,) ein eigenes Theaterstück verdienen würde. Die lesbische (oder doch bi-sexuelle) Tochter von Gus (Empty) will den Vater vom Selbstmord abhalten. Die restliche Familie schwelgt in internen Streitereien. Der jüngere Sohn (Vinnie) zertrümmert aus lauter Wut für seiner Nichtbeachtung das Haus, das er für den Verkauf herausgeputzt hat. Die schwangere Lebensgefährtin von Empty doziert über Geburt und die Theologie-Studien (Schlüssel zur heiligen Schrift ?). Clio, die Schwester von Gus,vertieft sich in Science-Bücher, kommentiert das Geschehen mit kurzen sarkastischen Worten und ungeachtet der Gefahr des Selbstmordes ihren Bruders, verschwindet sie kurzerhand mit dem großen Bild einer Heiligen als Hauptgepäckstück. Der Verkauf des Hauses und die damit verbundene Erbschaft bringt Unruhe ins Familiendrama und heizt die Stimmung bis zu Exzess auf.
Mit Humor und trockenem Witz zeigt die Über-Drüber-Patchwork-Familie aus Brooklyn ein wahres Potpourri an zwischenmenschlichen Beziehungen. Besonders grotesk sind die Beratungen, ob sich Gus umbringen soll oder nicht. Es soll darüber abgestimmt werden. Da wird mit großen Emotionen über Moral, Zugehörigkeit, Herkunft und Verbundenheit herrlich gestritten. Demokratie pur ohne eine Lösung, die irgendjemand glücklich machen würde. Am Ende ist Gus allein, der Traum ist ausgeträumt. Die Familie hat sich verabschiedet. Sein Leben ist ein Gefängnis der Selbstvorwürfe und ungenutzten Chancen, das ihn zum nächsten Selbstmordversuch treiben wird.
Mein Tipp: Lassen Sie sich vom Titel nicht abschrecken. Gehen Sie ins Volkstheater, und schauen Sie sich das an. Sie erleben dort ein außergewöhnliches, mit Spaß und Ironie, aber auch mit Tiefgang gesegnetes Werk.
Das Ensemble, mit dem herausragenden Erich Schleyer als Gus, Hans Piesbergen als Gus‘ Sohn, Robert Prinzler als Stricher und Claudia Sabitzer als Gus Tochter, unter der Regie von Elias Perrig präsentiert Theater vom Feinsten. In vielen Verstecken des alten Hauses (sehr gutes Szenenbild von Wolf Gutjahr) begegnet man der Vielfalt der menschlichen Beziehungen und deren Schicksale.
Ein grandioses Stück, das mehr Zuschauer verdient. Gratulation an das ganze Ensemble, das die österreichische Erstaufführung von Kusher so eindrucksvoll auf die Bühne des Volkstheaters bringt.
Ein vergnüglicher, aber auch nachdenklicher Abend.
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Nächste Vorstellung: 10.3.2013 um 15 Uhr
www.volkstheater.at
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