Zwiespältige Gefühle

Meine Konzertbegleiterin wirft mir vor, ich trauere noch immer dem früheren Chefdirigenten des Tonkünstler Orchesters Niederösterreich, Andrés Orozco-Estrada, nach und lasse seinem Nachfolger Yutaka Sado keine Chance. Ich gebe zu, dass ich manchmal so denke. Dennoch: Ich war zwei Tage hintereinander im Musikverein. Einmal mit Joseph Haydn, Beethoven und Brahms unter Sado, das zweite Mal mit Ferruccio Busoni und Bruckner unter Cornelius Meister mit dem ORF Symphonieorchester Wien. Es mag wohl auch am Programm liegen, dass der Zweite im direkten Dirigentenduell für mich der strahlende Sieger war. Präzise Vorgaben, Spiellust und Esprit zeichnen Meister aus. Der junge Dirigent hat alles, was ein Orchesterleiter mit Zukunftschancen braucht: Fleiß, Hingabe und eine musikalische Statur, die ihm erlaubt, auch unpopuläre Stücke auf den Spielplan zu setzen.

Und weil wir schon bei Andrés Orozco-Estrada sind: Er spielte alle Brahmssymphonien mit den Tonkünstlern ein. Was im Musikverein unter Sado zu hören war, ist weit von der Dynamik entfernt, die in der CD-Aufnahme steckt. (Ist im Tonkünstler-Shop zu kaufen, empfehlenswert!) Diese CD steckt seit Monaten im Player meines Autos. Zur Kontrolle ließ ich Brahms‘ Vierte durchlaufen, um in meinem Urteil sicher zu sein. Ich weiß nicht, was die Verantwortlichen des Tonkünstler-Orchesters bewogen hat, nach dem Hitzekopf Orozco-Estrada den bedächtigen Japaner Sado zu engagieren. Böse Zunge behaupten, mit ihm wäre es leichter, einträgliche Japan-Tourneen zu organisieren. Das will und kann ich nicht glauben. Ich bin überzeugt, dass auf Sados Visitenkarte noch nicht alle Meriten aufscheinen.

Zurück zum Konzert: Zu Brahms ist alles gesagt. Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 war freilich ein besonderer Leckerbissen, vor allem, weil die für Maria João Pires eingesprungene Beatrice Rana ein glänzendes Debüt mit Tiefgang gab. Völlig uneitel, fast schüchtern, dient sie dem Komponisten und dem Orchester, das sie zärtlich, bisweilen auch stürmisch begleitet. Beethoven legt dem Klavier sein Schaffen zu Füßen, um im Dialog mit dem Ensemble seine Genialität wirkungsvoll zu manifestieren. Erst nach dauerhaftem Applaus tritt Rana zur Zugabe an. Mit dieser zeigte sie, welch wunderbare Musikalität in ihr steckt.
In Joseph Haydns „Le Martin“ geht sinnbildlich die Sonne auf, die Natur erwacht, der Tagesrhythmus vermittelt Haydns Zeitwahrnehmung. Raffiniert fühlt er das Innerste in Mutter Erde. Am Hof von Eisenstadt zeigte man sich von diesem Werk entzückt. Es ist heute wie damals ein feines Stück barocker Orchesterliteratur, die allen Solisten eine breite Spanne der Entfaltung ermöglicht.

Ein Antrittskonzert des neuen Chefdirigenten hätte ich mir spannender und mit mehr Elan vorgetragen erwartet. Man darf für die Zukunft hoffen.

Die nächsten Konzerte der Tonkünstler im Musikverein finden am 22./23.11 unter dem Motto „Haydn und Mendelssohn“ statt.

Infos und Tickets: www.tonkuenster.at

Noch eine wichtige Information aus dem Theaterbereich:

Burgtheater-Benefiz für Flüchtlinge

„Wie kann ein Mensch illegal sein?“ - Unter diesem Motto findet im Burgtheater am 11.10. um 11 Uhr eine Benefiz-Veranstaltung für die Caritas zu Gunsten der Flüchtlinge statt. Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Flüchtlings- und Asylsituation in Europa stellt das Burgtheater die Jubiläumsfeier zu „60 Jahre Wiedereröffnung nach dem 2. Weltkrieg“ ins Zeichen der Solidarität und richtet einen Appell an die „europäische Humanität“. Karin Bergmann, die Direktorin des Burgtheater: „Wir müssen deutlich aufzeigen, dass wir von der Begegnung mit anderen Kulturen profitieren.“

Infos und Tickets: www.burgtheater.at

Reinhard Hübl