Kommentar
Die joggende Schulklasse

Christian Marold
RZ-Chefredakteur | Foto: RZ

Kürzlich kam mir bei herrlichen Frühlingstemperaturen eine Schulklasse entgegen. Wegen der Kleidung musste es eine Klasse gewesen sein, die gerade Sport hatte. Und tatsächlich konnte ich doch etwas entfernt ähnlich dem Bild des reitenden Cowboys gegen den Sonnenuntergang die Spitze der Klasse samt Lehrer entdecken. Ja, diese doch sehr kleine Gruppe bewegte sich im Vergleich zu den anderen Schülern schneller. Ich kam also zum Schluss, dass es eine joggende Schulklasse sein musste. Nun getraue ich mich zu behaupten, dass wirklich jeder so eine Turnstunde in seiner Schullaufbahn mitgemacht hat oder mitmachen musste. Nachdem ich diese besagte Schulklasse gesehen hatte, wurde mir klar: Viel hat sich nicht verändert und für den Lehrer oder die Lehrerin bleibt so eine Turnstunde im Freien mit einer Laufeinheit eine organisatorische Herausforderung. Es wäre mitunter einfacher, wenn jeder Sportlehrer einen Hirtenhund dabeihätte, um seine schlafenden Schafe aufzusammeln. So kam es, dass der Anfang der joggenden Schulklasse schon seit Minuten nicht mehr erkennbar war, aber immer noch Schüler an mir vorbeispazierten. Optisch gehörten diese aber klar zur Joggingklasse.

Dieses Bild erinnert mich an unsere jetzige gesamtgesellschaftliche Situation. Nehmen wir an, der Sportlehrer wäre die Regierung. Ambitioniert, etwas in Angriff zu nehmen und das im Laufschritt. Für viele in der Bevölkerung aber zu schnell. Manche können nicht, weil sie diese sportliche Ambition körperlich nicht mithalten können. Andere könnten, haben aber keine Lust. Andere wiederum sind ganz vorne dabei, treten der joggenden Regierung ständig von hinten in die Füße und reden dauernd, was die Regierung irritiert. Die Schüler weit hinten bekommen gar nichts mit. Sie wissen nicht einmal, wann die Spitze einen anderen Weg eingeschlagen hat. Interessanterweise kommen am Ende aber wieder alle an der Schule an. Über das Wie macht sich keiner Gedanken. Es gibt aber auch Schüler, die keine Lust am Sport oder eben Joggen haben, aber schlau genug sind, Schleichwege zu kennen. Manche etwas zu schlau, wenn sie schon vor der Regierung - nein dem Lehrer - wieder zurück an der Schule sind.

Der Lehrer muss eine Strecke wählen, die nicht zu lange ist, damit am Ende der Turnstunde auch diejenigen das Ziel erreichen, die Joggen nur aus irgendwelchen Insta oder Tik Tok-Videos von superschlanken Mittzwanzigern kennen. Somit etwas abbilden, wofür sie selbst gerne stehen würden, aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht können. Der Lehrer als Synonym unserer Regierung denkt, dass er mit der Bewegung in der Natur allen Kindern etwas Gutes antut. Der Lehrer, der den eigentlichen Sportlehrer nur vertritt, ist Mathematik- und Physiklehrer. Seiner Berechnung nach hat er diese Sportstunde ideal genutzt und den Weg mit all den Parametern von Hürden und Hindernissen perfekt berechnet. Er hat aus seiner Perspektive alles richtig gemacht, obwohl er eben kein Sportlehrer ist. Aber man kann ihm auch nicht wirklich etwas vorwerfen, denn es war eine Ausnahmesituation und kein anderer Lehrer konnte dafür einspringen.

Was haben die Schüler aus dieser Turnstunde mitgenommen? Wahrscheinlich nicht sonderlich viel. Diejenigen, die vorne an der Spitze waren, gehen am Nachmittag noch in ihre Vereine und sind auch dort spitze. Diejenigen, die weit hinten waren, hatten einen unnötigen Spaziergang und wollen nur wissen, woher sie ihr Mittagessen bekommen. Die Mitläufer in der Mitte haben versucht, die schwache Gruppe zu motivieren, ohne den Anschluss an die Spitze zu verlieren. Das Verhalten ist demnach durchaus berechenbar. Situationen hingegen nur schwer. Wie im richtigen Leben also.

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