„10 Prozent weniger – da verelendet keiner“
Soziologe Manfred Prisching prophezeit spürbare Einschnitte und wünscht sich ein
neues Bewusstsein.
WOCHE: Geht es den Menschen heute zu gut?
PRISCHING: Alles, was uns zunächst als Errungenschaft entgegenkommt, wird sehr bald zu einer Selbstverständlichkeit. Es wird unter „Normalzustand“ verbucht und wirkt sich nicht mehr auf Glück und Zufriedenheit aus. Wir reagieren unglaublich sensibel darauf, wenn uns etwas von dem als normal verbuchten Zustand genommen wird.
Braucht die Gesellschaft also Veränderungen?
Wir haben einen ziemlichen Druck aus einer ganzen Reihe von Veränderungen: die Globalisierung ist die naheliegendste. Aber auch, was mit Ressourcen zusammenhängt. Insofern stehen wir unter einem gewissen Zeitdruck, etwas zu tun. Dass gerade in der derzeitigen Situation besonders wenig getan wird, ist eine der Tragiken der Geschichte.
Warum lösen Politiker nicht die Probleme unserer Zeit?
Politikmachen ist sehr schwer in einer Situation, in der nicht – wie in den letzten 50 Jahren – alle möglichen Goodies verteilt werden können. Wenn ich all meinen wesentlichen Wählergruppen ausrichten muss, dass ihnen ein bisschen etwas weggenommen wird, ist das keine gute Konstellation, in der eine Verteilungsdemokratie funktioniert. Deswegen werden die politischen Gruppen in die Situation gedrängt, dass sie am liebsten gar nicht auffallen und gar nichts tun.
Warum lassen sich Menschen schwer mobilisieren?
Da kommt die Bequemlichkeit ins Spiel, der sogenannte Slacktivism. Das heißt: Ich bin bereit mich zu engagieren, sofern es nicht länger als eine halbe Minute Zeit braucht. Ich leiste jederzeit im Internet eine Unterschrift für etwas Gutes, aber es darf nicht Kraft und Zeit kosten. Selbst wenn man auf eine Demonstration geht, nimmt man die Kinder mit und macht auf Abenteuerurlaub.
War das früher anders?
Ich glaube schon, dass sich das geändert hat. Vor allem mit jahrzehntelanger Erziehung einer Generation, die in die Richtung geht: Das Wichtigste ist meine eigene Befindlichkeit. Mit dieser Individualitätsgeschichte hat man schon Narzissmus gezüchtet.
Ist es nicht die Solidarität, die eine Gemeinschaft erst funktionieren lässt?
Richtig. Wenn das gute Zureden und die Politik nicht helfen, dann vielleicht der Preismechanismus. Also schlicht und zynisch Preiserhöhungen. Auch Katastrophen könnten bewusstseinsändernd wirken. Das Problem damit ist, dass es wohldosierte Katastrophen sein müssen. Es darf nicht so viel kaputt werden, dass die Menschen aggressiv reagieren und sich wechselseitig erschlagen.
Ist der Mensch vernünftig genug, keinen Weltkrieg mehr zu beginnen?
Die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs waren in dem Sinn segensreich, dass man nicht mit allen Blödsinnigkeiten herumspielt. Ich habe das Gefühl, dass die Wirkung ein bisschen nachlässt, was man in bestimmtem Populismus wieder erlebt.
Könnte der Mensch aus Solidarität auf einen Teil seines Wohlstandes verzichten?
Ein Teil des Problems ist, dass die Menschen nicht wahrnehmen, wie gut es ihnen geht – wenn man die unteren 20 Prozent ausklammert. Für die meisten ist ein Verzicht von 10, 20 Prozent noch immer auf einem unglaublichen Luxusniveau angesiedelt. Da verelendet noch keiner.
Was könnte die Menschen verändern?
Als Exempel bietet sich die Wirtschaftskrise an; die ist noch lange nicht ausgestanden. Sie wird uns die nächsten zehn Jahre beschäftigen, wenn es gut geht. Da wird es Einschnitte geben, die spürbar werden. Man braucht nur einen Taschenrechner, um zu sehen: Es wird knapp. Vielleicht gibt es dann wieder eine Diskussion darüber, was ein gutes Leben ist. Es kann ja nicht darin bestehen, dass ich zu meinen 27 Leiberln noch ein 28. neues kaufen muss.
Wer nicht hören will, muss fühlen – stimmen Sie zu?
Ja, so ist es. Ganz sicher.
Autor: Gerd Leitner
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