Saltimbocca a la Grafenegg
Man darf nicht erwarten, dass die Damen und Herren beim Besuch der Festspiele in Grafenegg in Armani, Zegna oder Versace auftreten. Zu groß ist die Gefahr eines Regengusses und damit des Verlustes der teuren Designerstücke. Dem Autor dieser Kritik und vielen anderen Gästen gibt das Mörwaldsche-Pflicht-Menü zu wenig Wahl-Freiheit. Die Küchenrebellen landen beim bodenständigen Würstelstand. Besteck wird hier nur auf besonderen Wunsch ausgehändigt. Wenn jemand aus sich etwas Besseres machen will und zu Gabel und Messer greift, passiert oft, was passieren muss. Die Schreie der feingekleideten Damen und das Fluchen ihrer Begleiter bereiten Handessern, die ähnliche Erfahrung schon früher gemacht haben, eine gewisse Schadenfreude. Als Belohnung für das Fett-Spritz-Ungemach oder dessen Ausbleiben genehmigen sich noch viele ein Schnapserl, und schon ist man für das Konzert gerüstet.
Wenn wir schon vom Wetter reden: Ja, es ist Sommer. Ja, es ist sehr heiß: Das stört manch eine, die sich Erleichterung durch das heftiges Wacheln mit einem Fächer zu verschaffen versucht. Das Wetter nimmt das Programm wörtlich und beschert den BesucherInnen eine laue, ganz südlich anmutende Sommernacht. Andres Orozco-Estrada und die Niederösterreichischen Tonkünstler zögern daher im ersten Teil nicht, sich Marsch-Erleichterungen zu verschaffen: Sie präsentieren sich salopp mit offenem Hemd, einige sogar mit kessen Hosenträgern. Die Damen haben es mit luftigen schwarzen Abendkleidern sowieso (ausnahmsweise) leichter als die Herren.
Heiße Luft kommt nicht von der Wolkenturm-Bühne in Grafenegg. Wohltemperierte Töne perlen zur Ouvertüre der Schauspiel-Musik "Ein Sommernachtstraum". Leicht und schwungvoll, kommt das Konzert mit „Prosecco-Musik“ in Schwung. Ein Ohrenschmaus, der wohl auch beim Auftraggeber, dem preußischen König Wilhelm IV, Wohlgefallen ausgelöst hat. Der Hochzeitmarsch, den viele in Grafenegg erwartet haben, erklingt heute nicht. vielleicht auch um das deja vue allen Frischtraumatisierten (Verheirateten und Geschiedenen) zu ersparen. Und das wäre wohl auch zu viel an Wunschkonzert-Musik gewesen.
Felix Mendelssohn Bartholdys "Italienische" bringt die Antipasti aus dem toskanischen Gut Fattoria La Vialla, an die fein gespitzten Ohren. Das ist das "lustigste Stück, das ich je gemacht habe", outet sich der Komponist in einem Brief an einen Freund. Die Tonkünstler arbeiten den südlichen Klang der Symphonie besonders galant heraus. Man glaubt sich in die Toskana versetzt. Der morgendliche Nebel hebt sich von den Hügeln ab, die Sonne schreitet durch die Zypressenallee, es beginnt ein guter Tag. Ein Tag, der seinen sinnlichen Ausklang in „Una Notte Italiana" findet.
Die musikalischen Vorspeisen waren üppig. Die Pause wäre ein willkommener Anlass einen Albia Rose' aus der Toskana zu trinken. Leider nirgendwo aufzutreiben. Der einheimische Grüner Veltliner tut’s auch und schmeckt.
Nach der Pause eröffnet Gaetano Donizetti mit einer herrlichen Minestrone die musikalische Küche am Wolkenturm. Wir tauchen im übertragenen Sinn in das "Innoservato penetrava ... Angelo casto e bel" Szene und Romanze des Marcello aus der Oper "Il duca d'Alba" und Nemorinos Romanze "una furtiva lagrima" aus der Opera buffa L'elisir d'amore" ein." Eine verstohlene Träne" im "Liebestrank" drängt einige Damen die Taschentücher zu zücken. Aber so schlimm ist es doch nicht. Es ist ein Abend der Poesie, der Freude, der Inspiration. Die Tränen sind bald versiegt.
Der Herr über die Helden-Epen ist Giuseppe Verdi. Das Saltimbocca alla romana ist vorzüglich abgeschmeckt. Tenor Ramons Vargas serviert uns im schwarzem Anzug zarte, fein geschnittene Töne, wie mit Serrano-Schinken umwickelt. Jetzt ist er in seinem Element, das dramatische Repertoire ist ganz seine Sache. Ich sehe, wie die Gäste das Besteck weglegen, um den Auftakt des Triumphmarsches aus der Oper Aida zu hören. Die imaginären Gläser sind gefüllt mit Barolo, der dunkel ist wie das Timbre Ramon Vargas ist. Der mexikanische Ausnahme-Sänger und der kolumbianische Dirigent bilden eine Symbiose aus Leidenschaft und Naturgewalt.
Das "intermezzo sonfonico" aus der Oper Cavalleria rusticana schmeckt jetzt wie Tiramisu, etwas schwer, aber unersetzlich auf einer italienischen Speisekarte. Dieses süße Laster heißt wörtlich übersetzt "zieh mich hoch". Was, wie, in welche Richtung? Die musikalische Kalorienbombe drückt alle tief in ihre Sessel.
Giacomo Puccinis "E lucevan le stelle" (und die Sterne leuchteten), Arie des Cavaradossi, aus der Oper Tosca bildet den fulminanten Abschluss des offiziellen Teils. Das üppige musikalische Menü und das sich anbahnende tragische Ende der Tosca verlangen eindeutig nach einem Grappa…
Der anhaltende Applaus „zwingt“ die Künstler zu zwei Zugaben. Hat im bisherigen Programm Vargas seine Hände zu einer betenden Geste gefaltet bevor er seine Stimme erhob, so übermütig ist er bei den Zugaben. Der Kolumbianer und der Mexikaner sind ein kongeniales Paar und lassen jetzt südliches Temperament perlen. Gioacchino Rossinis: "La Danza" Tarantella Napoletana aus "Serate musical" und Salvatore Cardillos: "Core 'n grato", ein neapolitanisches Lied, sind bewährte klassische Ohrwürmer, die das Publikum begeistern.
Das siebengängige Menü, wenn auch nicht vom Mörwald, ist geliefert, die Flaschen und die Teller sind leer-gehört. Das Abservieren und der Abwasch bereiten mir kein Kopfzerbrechen. Ich war hier der Gast und wurde bestens verköstigt.
Buona notte amici e tornare a casa in sicurezza
Nächste Veranstaltung am 21.7.2012
Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, Orchester
Alice Sara Ott, Klavier
Jun Märkl, Dirigent
PROGRAMM
Béla Bartók
Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta
Franz Liszt
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 Es-Dur
--- Pause ---
Franz Liszt
«Totentanz» Paraphrase über «Dies irae» für Klavier und Orchester
Zoltán Kodály
Tänze aus Galánta
Franz Liszt
Ungarische Rhapsodie Nr. 1 f-moll (Bearbeitung für Orchester: Franz Doppler)
Reinhard Hübl
Freier Journalist
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