"Diagnose Legasthenie muss nicht gefürchtet werden"

Daniel Holzinger ist Leiter der Neurologisch Linguistischen Ambulanz am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Linz. | Foto: Barmherzige Brüder Linz
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STADTRUNDSCHAU: Wie viele Menschen sind von Legasthenie betroffen?
DANIEL HOLZINGER: Vier bis sechs Prozent der Schüler leiden an einer Leserechtschreibstörung, das heißt ausgeprägten Schwierigkeiten beim Erlernen der Schriftsprache. Buben sind deutlich häufiger betroffen als Mädchen. Die Legasthenie hat vorwiegend genetische Ursachen.

Wie kann sich Legasthenie im späteren Leben auswirken?
Es kann leider nicht davon ausgegangen werden, dass sich eine Legasthenie von selbst auswächst, auch wenn sich die Merkmale über die Jahre verändern. Das Lesen ist für den Wissenserwerb besonders wichtig, zudem kommt es aufgrund von oft beharrlichen Rechtschreibfehlern und entsprechend negativen Beurteilungen trotz Bemühens der Schüler oft zu globalem Schulversagen, einer vorzeitigen Beendigung der Schullaufbahn und schulischen Abschlüssen weit unter dem eigentlichen Begabungspotential. Daher ist auch die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Legasthenie erhöht.

Wirkt sich Legasthenie auch auf die Psyche aus?
Ein beträchtlicher Teil der betroffenen Kinder fällt in der Schule durch Verhaltensprobleme wie Aggression oder störendes Herumkaspern in der Klasse auf. Andererseits gilt es, emotionale Probleme wie Traurigkeit oder Angst vor der schule und Bauch- oder Kopfschmerzen vor Deutsch-Schularbeiten ernstzunehmen.

Wie erkennen Eltern, dass ihr Kind Legastheniker ist?
Zu Beginn der ersten Klasse fallen legasthene Kinder zumeist dadurch auf, dass sie bereits Schwierigkeiten beim Erlernen der Buchstaben, das heißt der Zuordnung von Buchstaben zu Lauten, haben. Beim lauten Lesen bereitet das flüssige Zusammenlauten von Buchstaben zum Wortganzen Mühe. Hierbei sollte darauf geachtet werden, Kinder neue Wörter aus bereits erlernten Buchstaben lesen zu lassen, zum Beispiel Lina, Ali, Mia etc., da sich viele von ihnen Schriftwortbilder ganzheitlich durchaus gut merken können und so fälschlicherweise der Anschein korrekten Lesens entstehen kann. Auch das lauttreue Schreiben nach der Strategie „Schreibe was du hörst!“ ist deutlich erschwert. Häufig kommt es zu Auslassungen von Lauten oder auch zur Vertauschungen in der Reihenfolge, zum Beispiel "Bif" oder "Birf" anstelle von "Brief". Ein Zergliedern gehörter Wörter in die Einzellaute fällt ihnen schwer – beim Wort „alt“ hört man etwa A-L-T. Später fallen legasthene Kinder insbesondere durch deutlich verlangsamtes und somit mühsames Lesen und nicht in erster Linie durch Lesefehler auf. Beim Rechtschreiben kommt es zu vielen Verstößen gegen die Rechtschreibregeln des Deutschen, zum Beispiel "Bilt" für "Bild", "Schbua" für "Spur" oder "Foraum" für "Vorraum".

Wann zeigen sich erste Anzeichen?
Heute weiß man, dass Kinder mit Sprachentwicklungsproblemen im Kindergartenalter eine stark erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, spätere Leserechtschreibschwierigkeiten zu entwickeln. Aufgrund der genetischen Verursachung ist auch die familiäre Betroffenheit, also Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten bei Eltern oder Geschwistern, ein gewisser Risikofaktor. Somit lässt sich bereits im Vorschulalter eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen erkennen. Ein wichtiges Erkennungsmerkmal ist etwa eine eingeschränkte Bewusstheit für den Aufbau von Wörtern aus Silben und Lauten, die sich über ein Silbenklatschen von Wörtern (Ba-na-ne), ein Erkennen von Klangähnlichkeiten (Reime) oder das Heraushören von Anfangslauten aus Wörtern (Hörst du O in Oma?) erkennen lässt.

Welche Tests gibt es zur Abklärung?
Eine Lese-Rechtschreibstörung liegt nach internationalen medizinischen Kriterien dann vor, wenn die Leistungen im Lesen und/oder Rechtschreiben deutlich unter der Altersnorm und unter dem Niveau, das aufgrund der Intelligenz des Schülers zu erwarten wäre, liegt. Die Diagnostik muss mehrdimensional angelegt sein. Neben einer standardisierten Untersuchung der Leseflüssigkeit, der Lesegenauigkeit, des Leseverständnisses und der Rechtschreibung gilt es etwa die Aufmerksamkeitsleistungen des Kindes, seine psychische Befindlichkeit, seine Begabung, sprachliche Fertigkeiten, die Schreibmotorik sowie das Hören und Sehen zu überprüfen. Neben anderen Institutionen sowie Klinischen und Gesundheitspsychologen bietet etwa die Neurologisch Linguistischen Ambulanz am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Linz eine umfassende Abklärung an.

Wie kann ein Kind mit Legasthenie optimal gefördert werden?
Bei Sorgen um das Lesen und Schreiben, insbesondere bei ausbleibenden oder nur geringen Fortschritten trotz Übens, ist es wichtig, zunächst die Lehrer zu kontaktieren. Sollten weiterhin Unsicherheiten bestehen bzw. die Förderwege unklar bleiben, ist der nächste Schritt einer umfassenden Diagnostik zu empfehlen. Die Diagnose einer „Legasthenie“ muss keineswegs gefürchtet werden. Sie wird vielmehr von einem Kind oftmals als entlastend erlebt, liegt doch die Ursache nicht in seiner mangelnden Begabung oder Lernbereitschaft. In weiterer Folge geht es darum einen gemeinsamen Plan zu entwickeln, was zu tun ist. Die Ergebnisse des Gutachtens sollten mit der Schule besprochen werden. Es gilt, einerseits die Leistungsbeurteilung insbesondere hinsichtlich der Rechtschreibung an die Möglichkeiten des Kindes anzupassen um eine generalisierte Demotivierung für schulisches Lernen zu vermeiden. Anderseits geht es um ein gezieltes Arbeiten an der Schriftsprache. Oftmals wird es hilfreich und nötig sein, externe Fachleute unterstützend zur Hilfe zu holen.

Wie sieht die Rolle der Eltern dabei aus?
Eltern haben eine entscheidend wichtige Rolle, ihren Kindern trotz so mancher Entmutigungen immer wieder den Rücken zu stärken. Insbesondere regelmäßiges gemeinsames Lesen spielt eine wichtige Rolle. Texte können durchaus ganz nach den Interessen des Kindes ausgewählt werden. Oftmals bewährt sich eine etwas größere Schrift, auch ein abwechselndes Lesen von Eltern und Kind. Auf Fehler sollte behutsam eingegangen werden, eher nebenbei oder durch vorvereinbarte Signale, nicht in jedem Fall, aber durchaus bei grober Sinnentstellung. Nach gewissen Abschnitten sollte das Gelesene mit dem Kind besprochen werden, sodass es lernt, nicht nur auf das technische Lesen, sondern die Inhaltserfassung zu achten. Hinsichtlich spezieller Leseübungen (z.B. silbisches Lesen) sollte auf Empfehlungen der Fachleute geachtet werden. Im Bereich des Rechtschreibens ist die Rolle der Eltern wiederum, das Kind für Schreiben im Alltag – etwa Notizen, Einkaufszettel, Mitteilungen via Email, Postkarten usw. – zu ermutigen und je nach Empfehlung der Schule oder des Leserechtschreibtrainers durch Übungen zur Verfestigung der Rechtschreibregeln oder zur Vergrößerung des Schriftwortschatzes durch Karteikastensysteme beizutragen.

Wie lange ist eine Förderung notwendig?
Es ist davon auszugehen, dass erfolgreiche Intervention oft über lange Zeiträume hinweg erfolgen muss. Lese-Rechtschreib-Trainings können durchaus über ein bis zwei Jahre hinweg erforderlich sein. Die Unterstützung der Eltern bleibt aber während der gesamten Schulzeit wichtig. Über die Jahre hinweg gilt es mehr und mehr die Stärken der Kinder zu nutzen und zu entwickeln und so auch ein positives Selbstkonzept. Wir brauchen in unserer Gesellschaft die vielfältigen Begabungen legasthener Kinder und Erwachsener!

INFOS UND KONTAKTE

Anlaufstellen für die Diagnostik: www.ooell.at
Liste qualifizierter Therapeuten: www.lrs-therapeuten.org
Erfolgreiche Programme: www.schulpsychologie.at
Institut für Sinnes- und Sprachneurologie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Linz: www.barmherzige-brueder.at

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