Interview
"Familien scheitern an alltäglichen Dingen"

Marianne Forstner forscht und lehrt an der FH OÖ und warnt vor einer Triagierung in der Kinder- und Jugendhilfe. | Foto: FH Oberösterreich
  • Marianne Forstner forscht und lehrt an der FH OÖ und warnt vor einer Triagierung in der Kinder- und Jugendhilfe.
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Marianne Forstner von der FH OÖ spricht über die Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Krise und die drohende Gefahr einer Triagierung.

LINZ. Marianne Forstner ist Lehrende und Lehrgangsleiterin an der Fakultät für Medizintechnik und Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Oberösterreich. Sie leitet unter anderem den Lehrgang Lehrgang Akademische*r Sozialpädagogische*r Fachbetreuer*in.

Die Kinder- und Jugendhilfe hat vor zwei Jahren ihr 100. Jubiläum gefeiert. Eine Erfolgsgeschichte?
Marianne Forstner: Soweit ich es einschätzen kann, ja. Der Betreuungsschlüssel in stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen hat sich erhöht, das Vieraugenprinzip bei Kindeswohlgefährdungen etabliert und grundsätzlich haben sich moderne pädagogische und sozialpädagogische Haltungen etabliert. Aber es gibt trotzdem noch viel zu tun. 
 
An welchen Problemen leiden Kinder und Jugendliche?
Oft sind es Schwierigkeiten betreffend der elterlichen Erziehungsmethoden. Wir haben seit 2011 das absolute Gewaltverbot im Verfassungsrang verankert und dennoch ist die sogenannte „gesunde Watschen“ noch immer weit verbreitet. Kinder und Jugendliche werden in der Schule oder auch Freizeiteinrichtungen durch Verhaltensweisen auffällig, die Schwierigkeiten in der Familie vermuten lassen. Die Kinder- und Jugendhilfe muss dann per Gesetz Erziehungsschwierigkeiten lindern und das Kindeswohl sichern oder wiederherstellen helfen.

"Die Menschen scheitern am Alltag"

Was sind häufige Schwierigkeiten im familiären Alltag?
Das sind alltägliche Dinge wie aufstehen, zu Bett gehen, gemeinsame Vereinbarungen, wie Zimmer aufräumen oder Sauberkeit, auch Ausgehzeiten und der Umgang mit Handy und Internet. Die Menschen scheitern am Alltag, und das sind die klassischen Herausforderungen auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.
 
Diese Themen beschäftigen wohl die meisten Eltern. Wo ist die Grenze zwischen „normalen“ Schwierigkeiten und dem Punkt, wo man von außen Hilfe holen sollte oder diese sogar als Zwangsmaßnahme erfolgen muss? 
Immer dann, wenn es zu einem dauerhaften Problem wird und es täglich und über lange Zeit zu Schwierigkeiten kommt. Wo Lösungsmodelle auch mit verbaler oder brachialer physischer Gewalt verbunden sind. Das gibt es auch umgekehrt, von Jugendlichen gegenüber Eltern, das ist aber seltener der Fall. Wo alltägliche Teilhabe an Dingen wie das Lernen oder die Sozialkontakte durch Probleme innerhalb der Familie behindert werden, etwa wenn das Kind in der Schule unzureichend aufmerksam sein kann, weil es zu hohe Handykonsumzeiten hat, nicht zum Schlafen kommt und Eltern das nicht mehr kooperativ mit ihren Kindern lösen können. 
 
Wenn man in so einer Situation ist, was sind die ersten Anlaufstellen, an die man sich wenden kann?
Die Kinder- und Jugendhilfe versteht sich zwar als moderne Beratungsorganisation, hat aber trotzdem noch ein Image der Fürsorge und daher gehen dann viele erst im nächsten oder übernächsten Schritt dorthin. Man kann Beratungsstellen aufsuchen, wie zum Beispiel beziehungleben.at, die Familienberatungsstelle des Landes OÖ, die Kinder- und Jugendanwaltschaft und auch bei Notlagen von Kindern den Klassiker „Rat auf Draht“ anrufen.
 

"Es gibt eine soziale Vererbung von Problemlagen"

Gibt es Familien, die eher Probleme haben oder betrifft das alle Schichten?
Grundsätzlich sind auch einkommensstärkere oder höher gebildete Menschen betroffen, weil Phänomene wie der Umgang mit neuen Medien oder Suchtmitteln alle treffen. Aber es gibt so etwas wie soziale Vererbung von Problemlagen, vor allem in ökonomisch schlechter gestellten Familien, wo etwa Gewaltbeziehungen schon über Generationen da sind und auch Alkohol- oder Drogenmissbrauch zur Verstärkung der Problemlagen beiträgt. So wie sich in Österreich immer noch Bildung „vererbt“.
 
Wir wirkt sich die Corona-Krise auf die Situation in den Familien aus?
Es ist nachweisbar, dass die psychischen Belastungen von Kindern bis hin zu Angststörungen massiv zugenommen haben. Die Gründe liegen in den fehlenden Peergruppenerfahrungen, Todesszenarien, den familiären Belastungen durch Kurzarbeit und damit verbundenen Einkommenseinbußen, aber auch die „Verdichtung“ im häuslichen Bereich. Die Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit spricht davon, dass es aufgrund der massiven Zunahme an Belastungen viel mehr Therapieplätze auf Krankenschein brauchen würde.  

"Jeder ist verpflichtet, einzugreifen"

Wie kann der Staat eingreifen?
Grundsätzlich immer dort, wo das Kindeswohl beeinträchtigt ist. Eigentlich ist jede*r Staatsbürger*in verpflichtet, einzugreifen oder zu melden, wenn Kindern Schaden droht. Nachbarn melden zum Beispiel bei der Polizei, wenn sie laute Streitereien oder verbale und körperliche Misshandlungen beobachten. Die Polizei macht dann einen Lokalaugenschein interveniert und gibt das an die Kinder- und Jugendhilfebehörde weiter. Die muss prüfen, ob eine Gefährdung des Kindeswohles besteht und Maßnahmen ableiten, die auch gegen den Willen der Obsorgeberechtigten ergriffen werden können.
 
Viele wollen sich nicht einmischen, sind sich nicht sicher, was ein „normaler Streit“ ist oder nicht. Was raten Sie den Menschen, wenn sie Beobachtungen machen?
Je nachdem wie das Verhältnis ist, wie anonymisiert oder nichtanonymisiert man lebt. Grundsätzlich ist die nachbarschaftliche Rücksprache schon sinnvoll, im Sinne eines Hilfsangebots. Ich mache mir Sorgen, geht es euch gut, ich höre, es ist laut, braucht ihr was? Wenn sich da der Verdacht erhärtet, kann man auch eine anonyme Anzeige machen oder eine anonyme Meldung bei der Kinder- und Jugendhilfebehörde.

"In Österreich schaut man gerne weg"

Wie gut funktioniert das System?
Ich befürchte, dass wir noch nicht ausreichend gut aufgestellt sind – auch bei der Zivilcourage, im Sinne von Einschreiten, wo Menschen in Gefahr sind, bedroht werden, angepöbelt oder massiv von körperlicher und psychischer Gewalt betroffen sind. In Österreich neigt man dazu, gerne einmal wegzuschauen. Corona hat sicher sein Übriges getan, wenn normale Mechanismen, wie ins Wirtshaus gehen oder die eigene Wohnung verlassen nicht möglich sind. Da steigern sich Problemlagen und damit auch gewalttätige oder übergriffige Handlungen. Dazu kommen Probleme von Männern in ihrem Arbeitsumfeld, wenn sie ihre Arbeit und damit Bedeutung oder Beziehungen verlieren. Da werden offensichtlich sehr patriarchale Mechanismen aktiviert, wo Femizide so stark gestiegen sind, wie schon lange nicht mehr, und zwar durch alle Schichten und auch jede Herkunft betreffend. Die Idee der immigrierten Gewalt stimmt ja so nicht. Das betrifft uns alle. Das scheint ein Phänomen zu sein, das sich in Zeiten von Corona potenziert hat.
 
Im Bereich der häuslichen Gewalt hat es von der Regierung finanzielle Nachbesserungen gegeben. Wie schaut es bei der Kinder- und Jugendhilfe aus?
Auch da wollte man zusätzliches Personal einstellen. Aktuell haben wir aber das Problem, dass es zu wenig Fachkräfte gibt. Selbst wenn man wollte, kann man gar nicht genug Personal nachbesetzen, um den Betreuungsschlüssel zu erhöhen. Die Kinder- und Jugendhilfe war gerade in Corona-Zeiten bereit, mehr in Hilfen zu investieren, aber manche Positionen in den Regionen konnten nicht besetzt werden, weil es keine Fachkräfte gab. 
 
Welche Berufsgruppen sind gefragt?
Das sind sozialpädagogische Fachbetreuer*innen, für deren Ausbildung wir in der Fachhochschule OÖ seit zwölf Jahren zuständig sind. Darüber hinaus braucht es diplomierte Behindertenpädag*innen, Kindergärtner*innen, Psychotherapeut*innen, Psycholog*innen und auch Lehrer*innen, wenn sie eine pädagogische Grundlagenqualifikation haben, sowie Sozialarbeiter*innen. Nur da ist das Phänomen, dass weniger als zehn Prozent der studierten Sozialarbeiter*innen in den Bereich der Erziehungshilfe gehen. Wir bilden an der FH OÖ rund 60 Personen im Jahr aus und diese „schluckt“ der Markt sehr schnell.

"Aktuell gibt es nicht mehr Plätze"

Gibt es nicht mehr Plätze, oder fehlen Bewerber?
Aktuell gibt es nicht mehr Plätze. Es wird eine Erweiterung mit Herbst 2022 geplant. Es war aber auch wegen Corona schwierig, weil wir eine berufsbegleitende Ausbildung sind. Es wurden 62 aufgenommen, aber es konnten nicht alle den Platz wahrnehmen – aus verschiedensten Belastungsgründen, wie fehlende Schulbetreuung oder finanzielle Engpässe.
 
Wie lange dauert die Ausbildung?
Sie dauert zweieinhalb Jahre, endet mit einem akademischen Abschluss und hat eine hohe Durchlässigkeit zum Bachelor Soziale Arbeit und zum Master Soziale Arbeit. 
 
Wie viele Personen müssten pro Jahr ausgebildet werden, damit man diese Löcher schließen kann?
Aktuell geht man von mindestens 90 Menschen jährlich aus, plus eine Attraktivierung für die anderen aufgezählten Berufsgruppen. 
 
Die Politik hat das Problem also erkannt?
Bei Landesrätin Birgit Gerstorfer wurde das Problem erkannt und man versucht, proaktiv darauf zuzugehen und auch so etwas wie eine Imagekampagne und eine Qualifizierungsoffensive zu starten. Das wirkt sich natürlich immer erst zeitversetzt aus. Aber das Bewusstsein ist da, dass jetzt investiert werden muss, weil auch die Auswirkungen der Kollateralschäden von Corona in den nächsten Jahren abgefedert werden müssen. Da geht es darum, eine Triagierung im Kinder- und Jugendhilfebereich abwenden zu können.
 

"Man kann den Bedarf nicht decken"

Gibt es Schätzungen, wie viele Kinder nicht adäquat behandelt werden können?
Das wurde noch nicht untersucht. Aber wenn man sich in der Fachwelt bewegt, weiß man, dass der Bedarf an einigen Kinder- und Jugendhilfebehörden ein sehr hoher ist und man den nicht decken kann.
 
Die Volkshilfe wirbt für eine Kindergrundsicherung. Angesichts der von Ihnen angesprochenen sozialen Probleme: Finden Sie das sinnvoll?
Das macht absolut Sinn, weil wir ja wissen, dass auch in den letzten Jahren ohne Corona Kinderarmut ein steigendes Thema ist, vor allem Armut von Kindern alleinerziehender und weiblicher Elternteile.

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