Kommentar
Perspektiven einer Flucht

Christian Marold
RZ-Chefredakteur | Foto: RZ

Die Restriktionen der Pandemie werden immer mehr gelockert. Für einige Grund genug, die Flucht zu ergreifen. Die Flucht vor dem Alltag nach über eineinhalb Jahren der Pandemie. Ortswechsel, andere Menschen sehen, andere Kulturen kennenlernen. Europa scheint auch mit dem Auftakt der Fußball-Europameisterschaft in Bewegung zu kommen. Die riesigen Kähne mit Hunderten gaffenden Menschen an Bord ankern mittlerweile wieder vor Venedig, die neuralgischen Knotenpunkte auf europäischen Straßen sind wieder vollgestopft und zu aller Freude spielt das Wetter auch noch in die Pläne für die Flucht aus dem Trott mit. Herrlich! Was haben wir doch viel gelernt aus einer erzwungenen Zeit der Demut und des Verzichts.

Kommenden Sonntag sollten wir uns vielleicht kurz besinnen und uns überlegen, warum wir vor etwas fliehen wollen und warum andere Menschen auf der Welt fliehen müssen. Am 20. Juni ist Weltflüchtlingstag - es ist der Tag, der daran erinnert, dass Millionen von Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen veröffentlicht dazu den jährlichen Bericht „Global Trends“, der die weltweit dramatische Situation in nüchterne Zahlen fasst. Und ja, es sind Zahlen, die schockieren, aber über die man genauso schnell hinweglesen kann wie über die Ergebnisse einzelner Partien der EM. Weltweit sind derzeit knapp 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Fast 46 Millionen Binnenvertriebene. Unter den Vertriebenen befinden sich 30-34 Millionen Kinder, Zehntausende von ihnen unbegleitet. Auch das sind Zahlen, die schockieren und seit Jahren nicht weniger werden – im Gegenteil. Es liegt an sehr vielen Faktoren, warum Menschen ihre Heimat, ihr Land und dadurch auch einen Teil ihrer Kultur und Identität aufgeben müssen. Es ist nicht immer der Faktor Krieg wie beispielsweise in Syrien. Es sind auch ethnische Verfolgungen, Klimaveränderungen oder politische Veränderungen, die zur Flucht zwingen. Weltweit sind mehr Menschen auf der Flucht als während und nach dem Ende des 2. Weltkriegs! Und immer weniger Menschen aus unserer Gegend wissen, was es heißt, fliehen zu müssen und nicht zu wollen. Ein Bruchteil der Menschen, die derzeit weltweit flüchten, haben die Chance, bei uns oder in anderen Teilen Europas neu anzufangen. Immer mit der Sorge eines Tages doch noch abgeschoben zu werden. Der Großteil aber bleibt flüchtend, bleibt suchend und oft mit einem verzweifelnden Ende. In unseren Köpfen herrscht oft das Bild, dass geflüchtete Menschen ja eines Tages wieder zurückkönnen. Was aber, wenn es kein Zurück mehr gibt, weil es dort, von wo sie fliehen mussten, schlicht nichts mehr gibt? Das mag genauso unvorstellbar sein wie die Zahl 80 Millionen.

Das kürzlich stattgefundene G7-Treffen in Großbritannien hat eines klar gezeigt: Es geht bei solchen - vermeintlich globalen - Entscheidungen der teilnehmenden Staatsvertreter nie um den Blick auf das Ganze, sondern nur um die Sorgen der mächtigen G7-Staaten. Was hat die Welt also seit dem Ende des 2. Weltkriegs und nach 2015 wirklich gelernt? Um es sehr überspitzt zu formulieren: Wir haben gelernt, systematisch wegzuschauen.

Kommenden Sonntag sollten wir uns bewusst Gedanken machen, was an den Grenzen Europas wirklich passiert und welche heile Welt uns in diesem Binnen-Europa vorgespielt wird. Da sind Auflagen und Restriktionen verursacht durch eine Pandemie im Grunde nur Lappalien.
Vor etwas oder jemanden fliehen zu müssen, bedeutet immer ein Müssen und kein Wollen.

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