Legoturmbau zu Babel

Wenn man sich umschaut, so wird man vielleicht bemerken, dass manche Ärzte dauerleidende Ehefrauen haben, manche Heilpraktiker haben allergische Kinder, Psychotherapeuten sind verrückt, Automechaniker fahren in den verbeultesten Klapperkisten herum, Bauern kaufen sich ihr Fleisch im Supermarkt, Kirchendiener lassen sich mit den billigsten Flittchen ein und Pädagogen nennen angeblich die unerzogensten Kinder ihr Eigen. Man braucht kein geschultes Auge, um sie schon von weiter Entfernung als Lehrerkinder identifizieren zu können.
So darf es mich als ehemalige Lehrerin eigentlich weder wundern noch ärgern, wenn zu den zehn häufigsten Fragen, die die Leute uns stellen, diese hier gehört: „Erzieht ihr eure Kinder eigentlich ...?“
Lehrerkinder hin oder her. Ich lasse die Leute gar nicht erst ausreden. Was bilden die sich ein, sich in die Erziehung meiner Prachtexemplare einzumischen?
Natürlich gehört es zu unserem Plan, dass wir sie zu guten Menschen erziehen. Mittlerweile können sie bitte und danke sagen und haben Grüß Gott und Auf Wiedersehen in ihrem Repertoire. Am besten funktionieren all diese guten Manieren, wenn man ihnen einen Euro androht oder Fernsehverbot verspricht.
Ein paar andere Sachen haben wir ihnen auch schon beigebracht. Zum Beispiel, dass man Lego wieder einräumen muss. Deshalb krabble ich jeden Abend unter dem Tisch herum und zeige ihnen, wie es geht, während sie im Zimmer nebenan den Sandmann ansehen, um in die richtige Stimmung fürs Bett zu kommen.
Der skrupelloseste Vater von allen hat eine erfolgreichere Methode an seinen Kindern getestet. Diese funktioniert jedoch nur, wenn im Ofen ein Feuer brennt. Die Unglückswürmer können sich noch gut daran erinnern, wie hell die Brio-Eisenbahnschienen aus Holz brennen, wenn man sie nicht rechtzeitig wegräumt. Wenn ihr Vater „Tidy up!“ ruft, was auf Deutsch so viel wie "Räumt auf, ihr missratenen Rabenbraten!" heißt, greifen seine Söhne den Heizkörper an. Ist dieser warm, raffen sie wie wild alle brennbaren Sachen zusammen, um ihnen und sich selbst ein grausames Schicksal zu ersparen. Das Lego lassen sie liegen. Für mich. „Und lass ja den hohen Turm stehen!“ verlangt Flynn mit erhobenem Zeigefinger.
Geboren im 21. Jahrhundert, wissen sie, dass es streng verboten ist, Plastik zu verbrennen.
Das letzte Legosteckerl ist in der Schachtel. Nein, es war das vorletzte. Auf das letzte trete ich auf dem Weg ins Fernsehkammerl. Barfuß. Ich stoße einen wütenden Schmerzensschrei aus. „Psst!“ zischen meine Kinder empört. „Wir hören nix!“
Folgsam und gut erzogen wie ich bin, räume ich mit meinen letzten Kräften ganz leise den Geschirrspüler ein. „Und lasst mich ja mit eurem ganzen Erziehungskram in Frieden, ihr Besserwisser!“ sage ich mehr zu mir selbst. „So genau wollte ich das doch überhaupt gar nicht wissen,“ stoppt die Nachbarin kleinlaut meinen Redefluss, während mein englischer Ehemann ihr in den Mantel hilft und ihr endlich die Spende für die Caritas gibt, um die sie gekommen ist.
„Du hast mich nicht ausreden lassen. Wo dein Mann doch Engländer ist, wollte ich nur fragen: Erzieht ihr eure Kinder eigentlich zweisprachig?“