Salvo Montalbano: Einer wie du und ich

Andrea Camilleri: Italiens Exportschlager #1

Ganz Italien  hat von ihm gelernt, dass der Ausdruck «tambasiare casa casa» ein durch Müdigkeit, Hitze und Behäbigkeit erzeugtes, zielloses Herumlungern zu Hause bedeutet. Man legt vielleicht einen Löffel in die Tischlade, rückt ein schiefes Bild zurecht oder blättert im Adressbuch. Mehr nicht.

In der brütenden Mittagshitze des Mittelmeerraums ist bei geschlossenen Fenstern und heruntergezogenen Rolläden, Rollos und Markisen im dämmrigen Halbdunkel der Wohnung viel mehr an Aktivität auch reine Verschwendung von Energie. 

Camilleri war nicht nur ein höchst erfolgreicher Autor, er war auch eine wichtige Stimme in Italiens Zivilgesellschaft.  Der sympathische Herr mit der tiefen Raucherstimme, der den Italienerinnen und Italienern ironisch, wortgewandt und eindringlich ins Gewissen redete, wird in der kollektiven Erinnerung verbleiben.

Zum literarischen Star wurde Camilleri erst in einem Alter, in dem andere schon ein paar Jahre ihre wohlverdiente Pension genießen. Er war 68, als im Jahr 1994 „Die Form des Wassers“, der erste Montalbano-Krimi, erschien. Camilleris Erfolg war eine literarische Sensation, die die Erfolgsstorys von Umberto Eco oder Susanna Tamaro deutlich überbot: Im Sommer 1998 belegte der Autor acht von zehn Plätzen der italienischen Bestsellerliste, die Verkaufszahlen waren spektakulär. Mit dem Commissario Montalbano hat der gebürtige Sizilianer den besten Exportschlager Italiens erfunden. Die litarische Figur Salvo Montalbano machte ihn weltbekannt.

Berühmt wurde er als Fernsehregisseur, als er in den sechziger, siebziger Jahren mit Krimiserien um die Inspektoren Sheridan und Maigret dem italienischen Publikum wahre Straßenfeger bescherte. Als er literarisch zu arbeiten begann, konnte er also auf eine erstklassige Vorbildung im Verfassen von Dialogen zurückgreifen.  Zehn Jahre mußte er warten, bis 1978 das erste Buch "Il corso delle cose" (Der Lauf der Dinge) gedruckt wurde; 14 Verlage hatten das Manuskript abgelehnt. Zu den wenigen, die Camilleris Talent sofort erkannten, gehörte Leonardo Sciascia, in jener Zeit Siziliens literarisches Aushängeschild. Er vermittelte den gar nicht mehr jungen Nachwuchsautor an den Sellerio Verlag in Palermo. 
Camilleris erste Romane basieren auf wahren Begebenheiten des sizilianischen 19. Jahrhunderts. Seine historischen Romane erreichten jedoch gerade einmal eine Auflage von 5000 Exemplaren.  Der Erfolg kam mit Kommissar Salvo Montalbano, einem Polizisten, einem Mann wie Maigret.  Er meidet den Kontakt mit den Vorgesetzten, hasst Medientermine, ist ein leidenschaftlicher Leser und ein leidenschaftlicher Anhänger der sizilianischen Küche und hat eine Verlobte, die in Genua lebt und arbeitet.  Seit 1999 werden die Montalbano Romane vom Staatsfernsehen RAI verfilmt. 

Salvo Montalbano wird zum kollektiven Liebling der Italienerinnen und Italiener. Er wird zu einer Figur des Alltags, zu einem wie du und ich. 

Andrea Camilleri erzählt: 

"Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, als während einer Lesereise auf Sizilien auf einmal drei Männer mit ernster Miene auf mich zugekommen sind und voller Überzeugung sagten: ,Hören Sie zu, Camilleri, diese Heirat zwischen Montalbano und der Frau aus Genua darf nicht stattfinden. Es gibt wirklich genug nette Mädchen hier bei uns...'"

Andrea Camilleri starb, mit 93 Jahren, 2019 in einer Klinik in Rom.  Im Dezember erschien postum sein vorletzter Montalbano Roman "Ein tiefer Blick in die Seele," auf Deutsch.  Im Sommer 2024 wird der allerletzte Montalbano Roman in der deutschen Übersetzung aufliegen: Die Mission des Kochs.

Eine Hommage an Luigi Pirandello

Aber Camilleri ist nicht zufällig ein entfernter Verwandter von Luigi Pirandello:  Ab 2005 lag der finale Fall des berühmten Polizeikommissars Salvo Montalbano in den Schubladen des Herausgebers Sellerio.  Er hat den letzten Montalbano Roman "Riccardino" 2005 geschrieben und elf Jahre später überarbeitet, aber nur sprachlich, ohne die Handlung zu verändern, so dass der italienische Verlag Sellerio nun für Philologen auch eine Doppelausgabe mit beiden Versionen – der von 2005 und der von 2016 – anbietet. Camilleri verfügte, dass dieser Roman postum erscheinen sollte.  Er wollte nicht, dass es ihm ergeht wie seinem frühverstorbenen Kollegen, dem Spanier (und Taufpaten seines Kommissars) Manuel Vázquez Montalbán, der sich nicht mehr von seinem Protagonisten, dem Privatdetektiv Pepe Carvalho, „befreien“ konnte. Das Buch ist sein literarisches Testament.