Auf der Flucht vor dem Krieg nach Klosterneuburg: "Entweder wir leben alle oder wir sterben alle"

- Die seit mehreren Jahren in Klosterneuburger lebende Tochter hat sich gemeinsam mit ihrem Mann darum bemüht, dass ihre Eltern und Geschwister samt deren Familien nach Österreich geholt werden.
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2.337 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Klosterneuburg und Damaskus. Die Angst vor Jihadisten verfolgt die in der Babenberger Stadt untergekommene syrische Großfamilie trotzdem bis hierher.
KLOSTERNEUBURG/WIEN (cog). Der Schock sitzt ihnen noch in allen Gliedern. Beim Einkaufen am Wiener Hannovermarkt ist jene syrische Flüchtlingsfamilie, die seit Anfang des Jahres in Klosterneuburg lebt, auf ISIS-Sympathisanten gestoßen. Diese warben mit Flugzetteln um Freiwillige für den Jihad in Syrien. "Das war reinster Horror", erinnert sich eine erwachsene Tochter – sie will wie der Rest der Großfamilie aus Angst vor Jihadisten anonym bleiben. Sie selber lebt seit sieben Jahren mit ihrem Mann, einem gebürtigen Klosterneuburger, in einem Häuschen in der Babenberger Stadt. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges hat das Ehepaar alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihre Eltern und die Familien ihres Bruders und ihrer Schwester nach Österreich in Sicherheit zu bringen.
Jihad-Kämpfer für Syrien in Wien
Was interessiert uns Syrien, das ist weit weg, habe es von mancher behördlichen Stelle geheißen. Der Vorfall am Hannovermarkt zeigt, wie fatal eine solche Einschätzung sein kann. Die Welt ist nicht nur virtuell zusammengerückt – auf der Seite der Terrororganisation ISIS kämpfen auch ÖsterreicherInnen im Irak und in Syrien, die aus dem Herzen Europas rekrutiert wurden.
"Wir haben nie geglaubt, dass das in Syrien passieren kann", meint die Mutter kopfschüttelnd auf Arabisch, ihre Tochter übersetzt das erlebte Leid und die Angst um zurückgebliebene FreundInnen und Verwandte.
Im Auto über Grenze geflüchtet
Die Tränen in den Augen der Anfang 60-jährigen Frau sprechen für sich. Ihr Mann hört schweigend zu. Er war einst ein hochrangiger Offizier. Bevor Österreich ihn und seine Familie von Beirut aus nach Wien einfliegen ließ, musste er eine lange Befragung über seine Fluchtmotive und seine Vergangenheit über sich ergehen lassen. Er wolle nur Sicherheit für seine Enkelkinder, habe er wieder und wieder betont. Alle oder keiner, das war sein Credo – auf der Flucht aus der Hauptstadt Damaskus haben sich alle sechs Erwachsenen und die vier Kinder in ein kleines Auto gezwängt: "Entweder wir leben alle oder wir sterben alle."
Aufeinander sitzend und erstarrt vor Angst sind sie durch die Nacht gefahren. Über ihnen haben die Raketen den Himmel hell erleuchtet. Heuer am 17. Jänner war die fast zweijährige Odyssee der Familie zuende: Sie landeten in Österreich – mit anerkanntem Flüchtlingsstatus.
Dankbarkeit für Klosterneuburger Unterstützung
Durch die Unterstützung von Tochter und Schwiegertochter in Klosterneuburg, den hiesigen Behörden angefangen vom Bürgermeister bis zur Bezirkshauptmannschaft und sozialen Hilfsorganisationen wie dem Kinderflohmarkt ist mittlerweile, ein halbes Jahr später, so etwas wie Alltag eingekehrt. Die beiden älteren Kinder gehen in einen Klosterneuburger Kindergarten, die Erwachsenen machen Deutschkurse und sind auf Jobsuche.
"Die junge Generation versucht sich im neuen Leben einzurichten", erklärt der Schwiegersohn positiv gestimmt mit einem seufzenden Blick in Richtung der beiden Älteren. "Für sie ist es nicht leicht." Was für alle schwer zu begreifen ist, ist dass das Heimatland, das sie lieben, mit all seinen Kulturschätzen und religiös bedeutenden Stätten zerstört worden ist. "Wenn ich daran denke, dass die jüngeren Kinder, dieses Syrien nie kannten, tut mein Herz so weh", meint eine Tochter. "Es ist Krieg", sagt ihr Vater und tätschelt ihren Arm.
"Es hat immer gebrodelt"
Die beiden sind unterschiedlicher Meinung über den Beginn der Demonstrationen. Während die Tochter nicht versteht, warum man nicht mit dem Leben zufrieden war ("Wir hatten alle Freiheiten und es war sicher. Als Frau konntest du Bikini tragen oder Kopftuch, es war egal. Und wir konnten als Frauen alleine bis drei Uhr nachts auf der Straße unterwegs sein. In welcher Großstadt der Welt geht das noch?"), versteht er die Forderungen nach einer Verbesserung der Situation. Der Syrer ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Trennung von Staat und Religion und hätte sich ein Mehrparteiensystem für sein Land gewünscht. Er war der einzige in der Familie, der mit einem Bürgerkrieg gerechnet hat: "Es hat immer gebrodelt, darum musste das Regime auch streng sein. Doch jeder hat das Recht für bessere Verhältnisse friedlich zu demonstrieren. Da hätten wir von Ägypten und von Tunesien lernen sollen." Zugehört hat ihm keiner. Auch jetzt nicht. Die Tochter macht eine wegwischende Handbewegung: "Wir haben alles gehabt. Wozu das Ganze? Jetzt ist das Land kaputt."
"Donner erinnert an Bombenlärm"
Wenn der alte Mann heute mit seiner Frau durch Klosterneuburg spaziert, ist der Horror des Krieges manchmal nur einen Donnerschlag entfernt. Denn Gewitterlärm ist derselbe wie jener von Bomben und Raketen und weckt Angst-Erinnerungen an die Zeit in der ersten Fluchtwohnung im Zentrum von Damaskus. Dorthin waren sie geflohen, nachdem ihr Wohnviertel von den Rebellen eingenommen worden war. Selbst die Kinder konnten in dieser Zeit problemlos unterscheiden, ob eine Detonation von einer Autobombe oder einer Rakete ausging.
"Rakete" als erstes Wort
Die beiden kleineren Kinder waren zu dieser Zeit noch Babys. Statt des häufigen "Auto" war ihr erstes Wort "Rakete". Ein Jahr lang hat die Großfamilie in der kleinen Wohnung gewohnt. Es gab keinen Kindergarten, die meisten mussten von der Arbeit zuhause bleiben, weil die Büros in belagerten Vierteln waren. Für eine Magenoperation des Vaters mussten NachbarInnen um Blutspenden gebeten werden – denn nur wer die Blutbank gleichwertig auffüllte, erhielt selber Spenden.
"Aber wir haben es geschafft", ist die Mutter dankbar. "Das ist unglaublich, wir sind alle in Sicherheit vereint." Sie bedenkt die Schwiegertochter mit einem liebevollen Blick. Aus deren Familie wurden mittlerweile vier Cousins entführt oder getötet.
Neue Zukunft in Klosterneuburg
Ob eine Rückkehr zur Debatte stehe? "Unser Syrien gibt es nicht mehr", meint eine Tochter. Auf beiden Seiten seien mittlerweile grässliche Dinge geschehen, die Hass zurücklassen. "Und dabei hat die unterschiedliche Religionszugehörigkeit früher überhaupt keine Rolle gespielt. In Syrien gab es islamische Feiertage ebenso wie christliche."
Das Engagement der Menschen in Klosterneuburg hat der Familie wieder Auftrieb gegeben. "Schön langsam kehrt so etwas wie Routine in unser Leben ein", so die Mutter. Der Sohn zieht mit seiner Frau und den beiden Kindern im August in eine Gemeindewohnung. Zum ersten Mal seit zwei Jahren wird die Großfamilie dann wieder getrennt wohnen. Und auch wenn Erlebnisse wie die Jihadisten-Rekrutierung am Hannovermarkt für Irritationen sorgt, ist das ein Zeichen, dass sie sich alle nach und nach wieder an ein Gefühl von Sicherheit gewöhnen.
Zur Sache
2,9 Millionen SyrerInnen sind bis heute bereits aus ihrem Land geflohen. Österreich hat im April zugesagt, sein Kontingent von 500 auf 1.500 Flüchtlinge, die zusätzlich zu laufenden Asylverfahren aufgenommen werden, erhöht. Vergangene Woche endete die Einreichfrist für Vorschläge von Familienangehöriger. In den kommenden Wochen sollen 200 Flüchtlinge mit Hauptaugenmerk auf ChristInnen, Frauen und Kinder ausgewählt werden.
IM DETAIL
Der Politologe Thomas Schmidinger von der Universität Wien über die Rekrutierung von "GotteskriegerInnen" für Syrien in Österreich:
"Eine seriöse Zahl, wie viele Menschen aus Österreich nach Syrien oder in den Irak in den Jihad gezogen sind, gibt es nicht. Die kolportierten Zahlen sind Phantasiezahlen. Es sind allerdings nicht nur eine Handvoll Leute und es sind auch nicht Tausende – darunter sind Jugendliche und junge Männer (weniger Frauen) unterschiedlichster Herkunft. (...) Es ist sehr verständlich, dass sich Flüchtlinge aus Syrien, die nicht nur vor dem Regime, sondern oft auch vor ISIS geflohen sind, vor so einer demonstrativen Präsenz von ISIS-Jihadisten in Wien fürchten. Dass von ihnen eine unmittelbare reale Gefahr für die Flüchtlinge augeht, ist zwar unwahrscheinlich. Allein das öffentliche Verteilen von Flugblättern mit solchem Inhalt oder das öffentliche Zeigen von Symbolen von ISIS kann für Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak aber schon einschüchternd wirken."
Im Verfassungsschutzbericht vom letzten Jahr heißt es:
"Im Kontext Radikalisierung und Rekrutierung waren im Jahr 2013 die Entwicklungen in Syrien als neuer 'Jihad'-Schauplatz (externes Gefährdungspotenzial) besonders besorgniserregend, zumal diese unmittelbare Auswirkungen auf das Bundesgebiet, in Form von Reisenden sowie Rückkehrern, zeigen. (...) Radikalisierungs- und Rekrutierungspraktiken waren im Berichtsjahr
auch in Österreich relevant. Die Anzahl der jungen radikalisierten Anhänger eines gewaltbereiten Salafismus steigt weiterhin. In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Konflikt in Syrien von vordinglicher Relevanz für Österreich, da im Bundesgebiet systematisch Bemühungen unternommen werden, um Personen zu radikalisieren und für den Krieg in Syrien zu rekrutieren."


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