Das Saufen führt ins Nirvana - Mord als lässliche Sünde
Die Bühne ist schon offen. Der vielen Türen ansichtig, denke ich sofort an Georges Feydeau. Verwechslungen und Klamauk kommen mir in den Sinn, obwohl man Feydeau nicht unbedingt gefällig inszenieren muss.
Eugène Marin Labiche, der Autor des Stückes "Die Affäre Rue de Lourcine", hat einen desperaten Zugang zu den sozialen Problemen seiner Zeit. Subtiler als Feydeau prangert er die Scheinheiligkeit der Upperclass an. Die französischen Zeitgenossen nähern sich der Missbilligung auf verschiedenen Wegen. Saufen ist so lange gesellschaftsfähig, bis jemand das Bewusstsein verliert und nicht mehr Herr seiner Taten und Erinnerungen ist. "Die Affäre Rue de Lourcine"ist - auf einen einfachen Nenner gebracht - das Sittenbild einer verkommenen Gesellschaft. Die Top-Besetzung des Burgtheaters - Nicholas Ofczarek (leider spielt er einmal mehr überzeichnet einen Besoffenen), Michael Maertens, Peter Matic, Markus Meyer und Maria Happel kann die Fassung von Elfriede Jelinek sehr gut bespielen.
Die 90-minütige Farce ist eigentlich eine Tragödie. Zwei Schulfreunde
- Lenglumé und Mistingue - wachen ziemlich illuminiert und ohne jede Erinnerung an die vergangene Nacht im Haus des wohlhabenden Lenglumé auf. Man siezt sich sogar, obwohl die Saufbrüder nach einem Elite-Schultreffen eine gemeinsame Nacht im selben Bett verbracht haben.
Sie sind noch so betrunken, dass sie sich anfangs nicht als Freunde erkennen. So weit so gut. Brisanz erhält die Szene durch einen Zeitungsbericht, den Lenglumés Frau den beiden beim gemeinsamen Frühstück zur Kenntnis bringt. In der Rue de Lourcine, dem Schauplatz einer Fete, sei nächtens eine Kohlenschlepperin erschlagen worden. Die unbedarfte Frau Lenglumés vermisst ihren Schirm, der sich im Zeitungsbericht als Indiz wiederfindet. Auch ein mit Initialen versehenes Taschentuch Mistingues wird erwähnt. Panik breitet sich aus, denn in den Hosentaschen der vermeintlichen Kriminellen findet sich Kohlenstaub. Ein Damenstrumpf, eine Locke und ein Schuh vertiefen den Verdacht der beiden Herren, im Rausch einen Mord begangen zu haben. Der Diener ist in dieser verfahrenen Situation keine Hilfe, und der Vetter, ein Notar und erhoffter Alibibringer, spielt eine mehr als dubiose Rolle. Er nützt die Situation weidlich für eine feige Erpressung aus.
Lenglumé vermutet, sich das Schweigen des Defraudanten erkauft zu haben. Dem anfänglichen Entsetzen weicht nun kühle Kalkulation, und schon steht der Entschluss von Lenglumé und Mistingue fest: Alles muss vertuscht werden und die bürgerliche Fassade gewahrt bleiben, notfalls mit weiteren (Mord)Opfern. Die beiden sind einfach gestrickt und nicht Herr ihrer Sinne. Sie glauben, die Ereignisse der vergangenen Nacht wegwaschen zu können. "Händewaschen! Wasser! Seife! Und schon ist die weg, die Erinnerung!" sagt der eine. "Aber wir haben doch ohnedies keine, vergiss das nicht!" meint der andere. Die Frau aus der Gosse spielt im Gedächtnis der Alkoholiker keine Rolle mehr. Alles paletti? Nein - das Feuerwasser lässt vergessen, zersetzt das Hirn - und fährt dann doch ins Nirvana.
Barbara Frey setzt Jelineks Text drastisch um, vielleicht mit etwas zu viel Alkohol, manchmal verwirrend, man weiß oft gar nicht, ob man lachen oder vom Entsetzen gepackt werden soll. gewollt. Das scheint auch Ein großer Teil des Publikums ist auf Lustspiel eingestellt, findet jede kleine Geste der beiden Hauptdarsteller spaßig, kann sich an deren Physiognomie nicht genug satt sehen und drollt sich im Eindruck, eine Komödie gesehen zu haben, rasch von dannen. Welch großer Irrtum.
Next: 12.5.2015, 19,30 Uhr
Infos und Tickets: www.burgtheater.at
Reinhard Hübl
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