"Wir geben Hilfe zur Selbsthilfe"

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BezirksRundschau: Wie sehen Sie die Entwicklung von Armut und Hilfsbedürftigkeit in Oberösterreich?
Franz Kehrer:
Die Armut in Oberösterreich hat sich sicher ausgeweite und breitere Gruppen erreicht. Die Arbeitslosigkeit ist höher. Die Wohnungspreise sind sehr gestiegen und das trifft die Menschen, die wenig verdienen. Es gibt zudem immer mehr Teilzeitbeschäftigte. Vor allem Letzteres wirkt sich auf die Menschen aus, die mit weniger Einkommen dennoch ihre Wohnung finanzieren und sich etwas zu essen kaufen müssen. Die Lebenshaltungskosten steigen überproportional.

Wie viele Menschen sind in Oberösterreich armutsgefährdet?
Circa 60.000 Menschen sind manifest arm. Etwa 162.000 sind armutsgefährdet. Das ist oft versteckte Armut. Als Nachbar bekommt man oft nicht mit, dass jemand beispielsweise aufgrund von Scheidung oder gesundheitlichen Einschränkungen jeden Tag einen finanziellen Überlebenskampf führen muss. Und dann wird eine kaputte Waschmaschine zum Riesenproblem.

Sind armutsgefährdete Menschen stigmatisiert?
Sie sind stigmatisiert, aber nicht sichtbar. An der Kleidung sieht man das nicht. Armut wird verborgen – aus Angst, ausgegrenzt und als "Versager" betrachtet zu werden.

Wie kann man diesen Menschen dann helfen?
Das ist eine Gratwanderung, weil wir ja auch die Menschenwürde bei Armut wahren wollen. Es geht um Hilfe, ohne die Person zu beschämen. Die Fragen müssen sich beispielsweise Schuldirektoren stellen, wenn sie wissen, dass Kinder aus armen Verhältnissen kommen oder wir, wenn wir wissen, dass der Nachbar oder die Nachbarin arm ist. Generell würden gerechtere Lebensstrukturen helfen.

Wie schauen gerechtere Lebensstrukturen aus?
Beispielsweise, dass man bei unteren Einkommen höhere Lohnzuwächse hat. Arbeit ist in unserer Gesellschaft noch immer der Parameter, der Überleben, Wohlstand und Teilhabe an der Gesellschaft sichert. Menschen mit niedrigen Einkommen treffen auch Gebührenerhöhungen – Strom, Müll, öffentlicher Verkehr – viel stärker. Und die Gebühren sind in letzter Zeit überproportional gewachsen.

Aber die Kommunen haben oft selber kein Geld.
Es ist die Frage wie und wo man Geld ausgibt. Es ist eine gesamtpolitische Frage. Brauchen wir einen Brenner-Basisttunnel. Es befremdet ja die Leute, wenn sie lesen wie viel Geld für Bankenrettungen europaweit ausgegeben wurde. Aus meiner Sicht führt das zu einer gewissen Ohnmacht und verstärkt das Gefühl, nichts tun zu können.

Sozial Schwache haben also zu wenig Lobby?
Auf jeden Fall. Daher ergreift auch die Caritas immer wieder die Initiative und wir weisen auf Missstände hin. Es kann aber nie genug sein.

Was macht die Caritas speziell in Oberösterreich?
Wir sind immer dort tätig und im Einsatz, wenn es gilt auf Notlagen zu reagieren. Beim Hochwasser im Vorjahr waren wir vor Ort, oder auch jetzt in Bosnien. Die Hilfe kann da über die pfarrlich-kirchlichen Strukturen sofort anlaufen. Im Frühling hatten wir wieder die Caritas-Haussammlung. Das kommt konkret hilfsbedürftigen Menschen zugute. Wir unterstützen aber nicht nur materiell, sondern wir wollen auch nachhaltig die Situation der Menschen verbessern. Das Schlagwort lautet Hilfe zur Selbsthilfe. Das ist ein hoher Anspruch und teils ein mühsamer Prozess, aber er lohnt sich. Die Menschen erarbeiten sich quasi ein Stück selbstbestimmte Lebensführung zurück.

Wie viele Menschen suchen bei der Caritas um Hilfe an?
Wir führen pro Jahr 13.000 Beratungsgespräche durch. Wir haben in fast allen Bezirken Beratungsstellen.

Im Zentralraum kommen wohl die meisten Menschen – auch prozentuell gesehen – zu den Beratungsstellen.
Ja. Die Hotspots sind der Großraum Wels und Großraum Linz. Das Thema Armut nimmt aber in allen Bezirken zu.

Wie ist es um die Hilfsbereitschaft der Oberösterreicher bestellt?
Die ist ungebrochen. Aber das Vertrauen muss jeden Tag aufs Neue erabeitet werden. Viele Menschen engagieren sich zudem ehrenamtlich, beispielsweise in Pfarren und Vereinen vor Ort. Vielfach im Verborgenen. Das ist ein großer Schatz im Land.

Wie hoch ist das jährliche Spendenaufkommen?
Im Vorjahr waren es knapp zwölf Millionen Euro. Davon knapp drei Millionen für die Hochwasserhilfe und zwei Millionen für die Opfer des Taifuns auf den Philipinen. Normalerweise sind es sechs bis sieben Millionen Euro pro Jahr. Und die verwenden wir für Sozialprojekte, Menschen mit Beeinträchtigung oder Auslandshilfe.

Das wichtigste sind wohl Geld- und Kleiderspenden?
Natürlich, aber auch Zeit. Wir haben mehr als 700 Ehrenamtliche, die beispielsweise in den Lerncafes mit den Kindern lernen oder in den Seniorenwohnheimen Ausflüge mitorganisieren.

Wie hoch ist der Umsatz der Caritas Oberösterreich?
Wir erbringen ja viele Dienstleistungen. Beispielsweise mobile Pflege, Kindergärten, Altenheime und noch mehr. Unser Umsatz liegt bei ungefähr 120 Millionen Euro Umsatz.

Wie viele Mitarbeiter hat die Caritas?
Etwa 3000.

Davon auch etliche in Teilzeit.
Wir haben eine etwas höhere Teilzeitquote. In Summe haben wir circa 2000 Vollzeitäquivalente. Wir haben Menschen, die bewusst sich für einen Teilzeitjob entscheiden. Manchesmal geht es aber auch nicht anders. In der mobilen Pflege brauchen die meisten Menschen in der Früh und am Abend Betreuung. Da müsste man Arbeitszeitunterbrechungen in Kauf nehmen. In der Früh bräuchte man in einer Gemeinde 15 Pfleger, zu Mittag zwei, um 14 Uhr keinen und am Abend wieder fünf. Das sind geänderte Lebensrealitäten, die sich auch in der Arbeitswelt niederschlagen.

Welche Trends sehen Sie bei der Betreuung?
Der demografische Wandel ist sicher eine große Herausforderung. Daher wird auch der Pflegebedarf steigen. Es wird eine ganz breite mobile Betreuung brauchen. Fakt ist, wir werden nicht alles bezahlt organisiert machen können. Da wird es neue Formen der Nachbarschaftshilfe geben. Diese Formen der Nachbarschaftshilfe werden dann wahrscheinlich professionell moderiert beziehungsweise angeleitet werden.

Ist das nicht ein Rückschritt in der Gesellschaft?
Ich sehe das nicht als Rückschritt. Es braucht halt die Antworten auf die gravierenden Veränderungen in unserer Gesellschaft. Wir sind in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, bei der auch der Sozialbereich nicht ausgenommen ist.

Und die Frage nach dem Personal? Stichwort Fachkräftemangel.
Natürlich stehen auch die Sozialberufe in einem Wettbewerb um die besten Kräfte. Die Gehälter im Sozialbereich müssen daher auch kompetitiv zu Gehältern in der Wirtschaft sein. Die Mitarbeiter müssen ja auch ihr Leben bestreiten beziehungsweise eine Familie ernähren.

Geben Sie einem Bettler, den Sie sehen, Geld?
Natürlich. Immer wieder. Ich verweise sie auch an die Caritas-Stellen. Weil so können wir nachhaltig helfen.

Zur Person:

Franz Kehrer (54) ist Direktor der Caritas Oberösterreich. Kehrer wuchs in Putzleinsdorf auf. Er wohnt mit seiner Frau in Ottensheim und hat drei erwachsene Kinder, die studieren.

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