Heimische Autorin im Interview
Politik sollte stets "Ringen um ein größeres Wir" sein

- Kohlenberger: "Die Krise ist erst dann wirklich vorbei, wenn sie für alle vorbei ist"
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WALLERN/WIEN. Die gebürtige burgenländische Autorin Judith Kohlenberger erzählt im Interview, wie ein "Wir" in den verschiedenen Gesellschaften entstehen kann.
BEZIRKSBLÄTTER: Aus aktuellem Anlass des Rücktritts von Gesundheitsminister Anschober: Denken Sie, dass das „Wir“ in der Politik oft zu kurz kommt?
JUDITH KOHLENBERGER: In der Politik, so wie ich sie verstehe und als Bürgerin umgesetzt sehen möchte, geht es im Grunde um nichts anderes als ums „Wir“. Historisch betrachtet waren politische Auseinandersetzungen bis hin zu offen ausgetragenen Konflikten immer auch ein Ringen um ein größeres Wir. Ein Kampf um Zugehörigkeiten und um die Frage, wie wir das Miteinander gestalten wollen. Man denke nur an die Frage, wer Teil des Wahlvolks ist – ursprünglich ein kleiner, elitärer Kreis an (männlichen) Bürgern, der nach und nach erweitert wurde.
Rudolf Anschober, den ich in seiner Funktion als oberösterreichischer Integrationslandesrat näher kennenlernen durfte, erschien mir immer als ein Politiker, der sehr um das Wir bemüht ist, aber auch die damit verbundenen Mühen kennt. Dass die Arbeit an einem größeren Wir persönlich sehr aufreibend sein kann, erfahren wohl viele, die sich politisch oder ehrenamtlich engagieren.
Wie kann ein „Wir“ im politischen Geschehen – Parteipolitik impliziert ja ein ständiges Gegenspiel und Ausspielen der anderen – forciert werden?
In meinem Buch plädiere ich für eine affirmative, also bestärkende Sichtweise auf Konflikte und Debatten. Sie sind nicht zwingend ein Zeichen dafür, dass das Gemeinsame gescheitert ist oder auseinanderzudriften droht. Im Gegenteil, man kann sie auch als Wachstumsschmerzen des „Wir“ verstehen. So wie eine Wunde, die zusammenheilt, oft noch juckt und brennt, so tut auch das Zusammenwachsen im Alltag manchmal weh. Das ist ja auch die Basis jedes demokratischen Prozesses: Die stete Suche um Konsens, welche im Grunde nie vollständig abgeschlossen sein wird.
Die Voraussetzung für produktives Erstreiten und Ausverhandeln ist aber, dass gewisse Grundsätze eingehalten werden. Es gibt rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen, und die beginnen aus meiner Sicht weit vor der strafrechtlichen Relevanz. Ziel in der politischen Auseinandersetzung sollte nicht primär der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die persönliche wie ideologische Integrität sein. Diese einzufordern, liegt im Grunde in der Macht des Souverän – also des Wählers.
Sie setzen sich für Sozialpolitik ein – was ist Ihre aktuelle Meinung zur Flüchtlingspolitik der EU (aufgrund von Corona hört man medial ja derzeit wenig bis gar nichts über die durchaus weiterhin bestehende Problematik)?
Der im Herbst vorgestellte Migrationspakt der EU bietet aus meiner Sicht keine realistische Aussicht auf eine Lösung der seit Jahren bestehenden Probleme in der Migrations- und Asylpolitik. In den Lagern an der europäischen Außengrenze fristen weiterhin viele geflüchtete Kinder, Frauen und Männer ihr Dasein unter menschenunwürdigen Bedingungen, ohne ausreichend sanitäre Anlagen oder Schutz vor dem Virus. Hier scheint man unter dem Motto „aus dem Augen, aus dem Sinn“ zu agieren, was Problemlagen aber nur zu verschärfen droht. Ganz grundlegend muss sich die EU die Frage stellen, welche Rolle sie im globalen Flüchtlingsschutz einnehmen will. Gerade auch im Jahr 2021, wo sich die Genfer Flüchtlingskonvention zum 70. Mal jährt. Sie wurde durch und von Europa erkämpft, und diesem historischen Erbe sollten wir auch heute noch gerecht werden.
Wie vermitteln Sie als Lehrende jungen Menschen ein „Wir“ – besonders in Zeiten der Pandemie und daraus folgenden Demonstrationen, Missverständnis gegen die Regierung usw.?
Die Vereinzelung der Gesellschaft durch das Gebot von Social Distancing und das Zurückgeworfensein auf die engste soziale Blase, meistens die Kernfamilie, ist in der Tat etwas, das ich mit Sorge beobachte. Aus der Kontakttheorie wissen, dass dann ein größeres Wir gelingt, wenn Menschen auch tatsächlich miteinander in Austausch treten und sich kennenlernen können, weil dadurch Vorbehalte und Ressentiments abgebaut werden. Der digitale Raum kann das nur unzureichend bieten.
Meinen Studierenden versuche ich zu vermitteln, dass ein größeres Wir allen nutzt, Ausgrenzung dagegen allen schadet. Und das kann ich sogar empirisch belegen (lacht). Eine Gesellschaft, die Ungleichheiten und Diskriminierung abbaut, ist eine stärkere, gesündere und reichere Gesellschaft. Dazu zählt auch gegenseitige Rücksichtnahme und Solidarität, schon aus aufgeklärtem Eigennutz. Die Pandemie führt uns ja deutlich vor Augen, dass wir alle zusammenhängen und voneinander abhängen. Und dass die Krise erst dann wirklich vorbei ist, wenn sie für alle vorbei ist.
Was sind Ihre nächsten Ziele, ist ein weiteres Buch geplant?
Derzeit nimmt mich mein Beruf als Wissenschaftlerin an der WU Wien voll in Anspruch, auch weil meine Kolleg*innen und ich durch die digitale Lehre, die nun schon ins 3. Semester geht, sehr gefordert sind. Ich habe das Schreiben am Buch aber als sehr lustvoll empfunden, und hoffe, bald wieder Zeit für eine populärwissenschaftliche Veröffentlichung zu finden. Aktuell beschäftigen mich Grenzen und Grenznarrative sehr – als Burgenländerin, die in einem Grenzgebiet aufgewachsen ist, ein naheliegendes Thema.


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