Fortsetzungsroman
Mühlstraßenbande: Teil 9
Fortsetzungsroman: Franz Strasser erzählt in "Die Mühlstraßenbande" von seiner Kindheit nach dem Krieg.
...Zu der Zeit, als mein Vater noch jung war und noch keine Luftmatratzen zur Verfügung standen, ließen sich die Buben natürlich etwas Ebenbürtiges einfallen, um die Ybbs zu passieren – davon erzählt die folgende Begebenheit:
Der Benzinkanister
Es war um Pfingsten 1945, also schon gegen Ende des ¬Zweiten Weltkrieges, als unsere Gegend immer wieder von feindlichen Bomberverbänden, hauptsächlich von amerikanischen, überflogen wurde. Der schwerste und bekannteste Bomber der Amerikaner war die Boeing B-17, Flying Fortress (dt. fliegende Festung), der dafür bekannt war, auch schwer beschädigt wieder aus seinen Einsätzen zurückzukehren. Gegen diese – bis zu mehreren hundert Flugzeugen starken – Verbände war kein Kraut gewachsen. Weder Flak, Flugabwehrkanonen, noch Jagdflugzeuge des Hitlerregimes konnten diesen entgegenwirken. Sie flogen unter anderem Prag, Linz und Ostdeutschland an und zerstörten viele Gebiete. Da die Flugzeugstrecken lang waren, wurden Zusatztanks unter den Tragflächen mitgeführt. Diese waren aus Aluminium und wurden, wenn sie leer waren, einfach abgeworfen. Sie konnten mehrere tausend Liter Treibstoff fassen. Während der NS-Zeit wurden die Tanks als wichtiger Werkstoff gesammelt. Fand man einen, musste man ihn sofort abliefern.
Ein uns bekannter Bub aus Ybbsitz, der in Waidhofen zur Hauptschule ging, erzählte uns, dass bei seinem Onkel in Maria Seesal, einem Wallfahrtsort der Marktgemeinde Ybbsitz, mehrere dieser Kanister liegen würden und wenn wir Inter¬esse hätten, könnten wir uns einen holen. Diese Kanister waren als Boote sehr gefragt, und da die Zeller und die Raifberger Buben schon welche hatten, war es ein unbedingtes »Muss«, dass auch wir, die Mühlstraßenbande, so ein Gefährt zum Befahren der umliegenden Gewässer, wie der Ybbs und dem Schwarzbach, besaßen. Dieser Tipp schien für uns eine große Chance zu sein, den anderen Banden in nichts mehr nachzustehen. Jedoch zuerst stellte sich die Frage, wie wir diesen riesigen Kanister nach Waidhofen befördern könnten. Auch hier konnte uns der Ybbsitzer Bub weiterhelfen. Während der Woche schlief er bei seinem Onkel in Waidhofen. Dieser hatte ein Fuhrwerkunternehmen und transportierte unter anderem auch Holz aus Seesal. Diese Gelegenheit wollten wir uns zu Nutze machen.
Es war ein heißer Frühlingstag, eine Woche vor Pfingsten, als sich um die Mittagszeit, nach dem Schulunterricht, eine Fahrgelegenheit anbot. Möglicherweise hatten wir auch ein paar Stunden geschwänzt, aber das lassen wir jetzt einmal außen vor. Unser Freund Helmut hatte einen stabilen, wunderbaren Holzleiterwagen, den wir auf das Fuhrwerk – einen Pferdewagen oder Traktor, so genau weiß ich es leider nicht mehr, – verluden. Der Onkel war ein sehr freundlicher Mann und wir erzählten ihm von unserem Plan. Er war davon begeistert und nahm uns gerne mit auf seiner Tour. Nun ging es Richtung Seesal. Dort angekommen, half uns der Onkel noch beim Abladen des Leiterwagens, anschließend mussten wir noch zirka zwanzig Minuten in das Tal hinein marschieren.
Tatsächlich, bei dem Seesaler Onkel angekommen, entdeckten wir drei herrliche Kanister, genau nach unserer Vorstellung. Zuerst begutachteten wir die Fund¬stücke, gingen bedacht hin und her und achteten akribisch auf Beulen und Beschädigungen. Nachdem wir uns einig waren, wurde der schönste Kanister aufgeladen, und wir zogen wieder von dannen. Ihr könnt euch vorstellen, wie wir uns auf die Fahrten auf der Ybbs und dem Schwarzbach freuten.
Aber erst waren noch fast zwanzig Kilometer staubige Landstraße zu bewältigen. Die Sonne schien an jenem Tag besonders intensiv, es war kein Wölkchen am Himmel und auch kein Windzug war zu verspüren. So trieb es uns allmählich den Schweiß aus den Poren, doch wir zogen frohen Mutes Richtung Waidhofen. Da die »Kleine Ybbs« gleich neben der Straße floss, hatten wir immer frisches Wasser zum Trinken und konnten auch ab und zu die Füße eintauchen. Das machte die Hitze erträglich. In Gstadt kam uns der Tschiegerl entgegen und brachte uns ein paar Frühäpfel. Sie waren noch grün, und wo er sie gestohlen hatte, war uns nicht ¬wichtig, denn sie schmeckten trotzdem gut und dienten uns zur Stärkung. Dann zog er abwechselnd für mich und für Helmut den Leiterwagen und so konnte sich immer einer ausruhen. Der Kanister wurde, nachdem wir unser Ziel erreicht hatten, zwischen zwei aneinandergrenzenden Gärten in der Nähe des Schwarzbaches versteckt. Das durfte natürlich keine der anderen Banden wissen, ansonsten wäre unsere Eroberung sofort gestohlen -worden.
Ein paar Tage darauf – es war Pfingstsonntag – sollte der Kanister im Schwarzbach zu Wasser gelassen werden. Ich musste jedoch vorher mit meinem Onkel Otto zur Firmung nach Linz. Da aber jedermann gebraucht wurde, wollte man auf meine Rückkehr warten. Nach der Firmung fuhr ich mit meinem Onkel auf den Pöstlingberg bei Linz zum Essen und danach ging es heimwärts. Ich hatte für diesen besonderen Tag einen schicken Anzug bekommen, der von unserem Hausschneider angefertigt wurde. Für den Stoff musste meine Großmutter einiges an Werkzeug von unserem Bau¬geschäft opfern. Zu dieser Zeit wurde noch auf diese Weise getauscht und gehamstert. Zu kaufen gab es ja noch nichts, denn der Krieg brauchte alles auf. Als wir wieder in Waidhofen ankamen, hatte ich natürlich keine Zeit mehr, um mich umzuziehen. Durch den Garten ging es ab zum Wehr der Kittelmühle. Die ganze Mannschaft wartete schon ungeduldig auf mich, um endlich den Kanister zu wassern. Unterhalb der Wehr war ein großer »Tumpf«, ein Tümpel. Auf einer der Seiten befand sich ein Gehweg oberhalb einer zirka drei Meter hohen Mauer. So wurde der Kanister auf das dort befindliche Geländer gehoben und mit Stricken gesichert. Ein paar Buben standen im Tümpel, um den Kanister von unten anzunehmen und ihn vorsichtig zu Wasser zu lassen. Wir anderen ließen von oben langsam die Stricke nach, die wir mit unseren Händen festhielten, sodass der Kanister bereits in der Luft hing. Mit unseren Bäuchen stützten wir uns dabei am Geländer ab, als dieses plötzlich unter unserem Gewicht nachgab und brach, sodass wir Buben – ich mit meinem neuen Firmanzug – in den Bach stürzten. Wie durch ein Wunder ist keinem von uns etwas Schlimmes geschehen. Ja, ein paar Beulen, aufgeschnittene Hände und blutige Knie gab es schon, aber das war für uns so gut wie nichts...
Mühlstraßenbande:
Erzählungen, Franz Strasser
Verlag Bibliothek der Provinz
ISBN 978-3-99028-383-7
19 x 12 cm, 100 S., € 13,00
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