Psychologie / Psychotherapie
Entwicklungstrauma und Schocktrauma - der Unterschied

Was ist der Unterschied zwischen Entwicklungstrauma und Schocktrauma?

Was sind Schocktraumen?
Ein Schockrauma bzw. eine Posttraumatische Belastungsstörung ist ein singuläres Ereignis, welches ich als bedrohlich, überwältigend und unfassbar erlebe. Es liegt außerhalb der menschlichen Erfahrung. Es kommt zu einer massiven Erschütterung meiner subjektiven Welt, und alle meine Bewältigungs- und Copingmechanismen versagen. Ich fühle mich auf einmal total unsicher, verliere den Grund und Boden und gerate rasch in eine körperliche und psychische Übererregung. Als Schutzreaktionen bleiben mir nur noch Totstellreflex, Dissoziation und innere Fragmentierung. Das Entsetzen ist die Grundlage eines jeden Schocktraumas und ich bleibe im Entsetzen stecken.

Das Schocktrauma bleibt in sich abgeschlossen, und die Traumafolgesymptome können durch verschiedene traumatherapeutische Methoden und Haltungen geheilt oder zumindest gemildert werden. Typische Schocktraumen sind Unfälle, Naturkatastrophen, Zeugenschaft schwerer Unfälle (Sekundärtraumata) und einmalige Erfahrungen von körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Auch eine Trennung, eine medizinische Operation, eine Sportverletzung, ein Sturz oder der Abort eines Kindes können Schocktraumen sein.

Bei der Arbeit an Schocktraumen arbeite ich nur mit Personen, die ich berühren darf, um sie zu regulieren. Dies impliziert nämlich eine gute Beziehung und Bindung, die es bei Schocktraumen unbedingt braucht.

Film: "Warum Trauma mehr ist, als eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)"

Was sind Bindungs- bzw. Entwicklungstraumen?

Entwicklungs- und Bindungstraumen hingegen finden in der Traumatologie noch immer viel zu wenig Beachtung. Traumafolgesymptome entwickeln sich hier dann, wenn Menschen vorgeburtlich, perinatal, in ihren ersten Lebensjahren und später keine ausreichend stabile Bindung erleben bzw. die unsicheren, destruktiven, ängstlichen, ambivalenten oder chaotischen Bindungsmuster ihrer Bezugspersonen lernen und übernehmen. Wenn ich mich als Kind nie gesehen fühle, Stunden lang schreien muss und dabei Todesangst erlebe, weil meine Eltern nicht kommen und mich regulieren, wenn ich alleine gelassen werde, nahe Bezugspersonen verliere, Tage lang durch Anschweigen bestraft werde, von meinen Eltern parentifiziert oder massiv beschämt werde, bilden sich später meist spezifische Symptome und gravierende Langzeitfolgen aus. Auch Hospitalisierungen und Aufenthalte in Internaten können zu Entwicklungstraumen führen.

"Entwicklungstrauma" als Begriff ist ambivalent, weil "Trauma" so dramatisch und spektakulär klingt. Wir können hier anstatt von "Trauma" auch von "Wunden und Verletzungen" sprechen.

Was sind typische Symptome von Entwicklungstraumen?

  • Eine Permanente innere Anspannung und Unruhe
  • Gefühle von Schuld und toxischer Scham
  • Emotionale Flashbacks
  • Dysregulation
  • Shutdown und innere Untererregung
  • Sich nicht zu fühlen und zu spüren, d.h. keinen Kontakt zum eigenen Körper, den Emotionen und Bedürfnissen zu haben
  • Gefühle innerer Leere und sich wie abgeschnitten zu fühlen
  • Die Welt wie durch Glas oder Watte zu erleben
  • Selbsthass und Selbstwertprobleme
  • Burnout und Depressionen
  • Schlafstörungen
  • Angststörungen und Phobien
  • Schwierigkeiten, stabile Bindungen und Partnerschaften einzugehen oder aufrechtzuerhalten
  • Sexsucht

Film von Dami Charf: "Die Auswirkung von frühen Verletzungen auf unsere Beziehungen"

Viel mehr Personen sind von Traumen betroffen, wenn wir Bindungs-, Beziehungs- und Entwicklungstraumen berücksichtigen. Ein Blick auf Tinder, Planetromeo, Grindr und diverse Datingportale kann uns hierbei die Augen öffnen. Ich persönlich kenne mehr Menschen, die unter Entwicklungstraumafolgesymptomen leiden als nicht davon Betroffene und Personen mit einem sicheren Bindungsstil. Auch der Klimawandel ist ein typisches Symptom für eine traumatisierte Gesellschaft, die völlig kontaktlos zu ihrer Umwelt ist.

Die Arbeit an Entwicklungstraumen erfordert Geduld, Zeit und ein gesellschaftliches Umdenken

Für die Krankenkasse gebe ich gerne die Diagnose "F62.0 Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung", damit meine Patient*innen möglichst viele Stunden erhalten. Ich beantrage hierfür meist einmal 100 Stunden, realistisch sind bei sehr starker Dysregulation aber 400 bis 600 Stunden. Ich bin oft verwundert, wie wenig Sensibilisierung hier im Gesundheitssektor vorhanden ist und wenn Sozialversicherungsträger davon ausgehen, dass Menschen mit schweren Bindungstraumen nach nur 50 bis 100 Stunden geheilt seien.

Das Ziel der Traumatherapie ist es, mit mir selbst und meiner Mitwelt wieder in eine echte Beziehung bzw. in guten Kontakt zu kommen und mich besser regulieren zu können. Dies erfordert Zeit, Geduld, Dranbleiben und auch Gnade mit mir selbst. Wir sollten uns von marktschreierischen Heilsversprechungen radikal distanzieren. Ich bin immer empört und verärgert, wenn manche selbsternannten Heiler*innen in nur einem Wochenendkurs rasche Hilfe und Heilung versprechen.

Autor: Florian Friedrich
Psychotherapeut in Salzburg / Hamburg
(Existenzanalyse)

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