100 Jahre Republik
"Wir hatten große Angst"

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Maria Ginther aus Patsch ist am 15. August 1918 geboren – heuer ist sie 100 Jahre alt geworden.

PATSCH/INNSBRUCK (kr). 100 Jahre – so lange ist es her, dass die Republik Österreich ausgerufen wurde. Im selben Jahr – also im Jahr 1918 – am 15. August wurde Maria Ginther, gebürtige Geisler geboren. Sie erzählt im BEZIRKSBLATT im Rahmen der Schwerpunktreihe "100 Jahre Republik" über ihre Kindheit, die Schulzeit, die schwierigen Verhältnisse im Krieg sowie ihr Leben in Innsbruck und Patsch.

BEZIRKSBLATT (BB): Frau Ginther, wo sind Sie aufgewachsen und wie verlief Ihre Jugend?
Maria Ginther:
Ich bin im Jahre 1918 als Tochter des damaligen Oberlehrers Gottlieb Geisler geboren. Aufgewachsen bin ich in Patsch und ging dort in die Volksschule. Danach ging ich aufs Lyzeum der Ursulinen, anschließend absolvierte ich mein Pädagogium und wurde Volksschullehrerin.

BB: Wo waren Sie dann als Volksschullehrerin tätig?
Maria Ginther:
Zuerst hat es sogar danach ausgesehen, als würde ich gar keine Stelle bekommen: Wir mussten zum Abschluss des Pädagogiums zu einer sogenannten Aussprache gehen. Ich weiß nicht, was mich da so frech gemacht hat, aber ich habe im Rahmen des Gespräches gesagt 'So erzogen, wie sie glauben, sind wir nicht; wir sind schon richtig geschichtlich aufgeklärt worden'. Damit habe ich gezeigt, dass ich nicht die gewünscht ergebene Einstellung habe.

BB: Was waren dann die Folgen davon?
Maria Ginther:
Ich habe zwar eine Stelle bekommen, später habe ich aber dann erfahren, dass es eine Art 'Strafstelle' war – ich wurde nämlich auf eine einklassige Volksschule in Mils bei Imst geschickt. Das Schulhaus war eine bessere Holzhütte und ich bekam die Klasse erst nach den Weihnachtsferien, als ich schon viel Zeit verloren hatte. Es ist mir aber trotzdem ganz gut gegangen – ich bin bei einem Bauern untergekommen, bei dem ich wohnen und essen konnte. Als Gegenleistung dafür musste im Sommer auf den Feldern geholfen werden. Das war aber kein Problem für mich, weil ich ja in Patsch, das damals stark von der Landwirtschaft geprägt war, aufgewachsen bin.

BB: Wie ging es dann weiter?
Maria Ginther:
Nach Mils kam ich nach Arzl bei Imst – das war schon eine gewaltige Verbesserung: eine dreiklassige Schule. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges herrschte ein großer Mangel an Lehrern – deswegen musste ich für einige Zeit am Vormittag in Arzl unterrichten, am Nachmittag dann in einer anderen Schule, die einen längeren Fußmarsch entfernt lag. In der Kriegszeit war es außerdem üblich, dass man für die Versorgung der Soldaten Beeren trocknete, Kräuter sammelte und diese dann abgeben musste. Ich war bis zu meiner Heirat dann in Arzl bei Imst. Danach konnte ich als Lehrerin nicht mehr tätig sein, weil in Tirol die Lehrerinnen damals nicht verheiratet sein durften. Durch meine Heirat bin ich dann nach Innsbruck gekommen, wo ich seitdem wohne.

BB: Haben Sie auch heute noch eine Verbindung zu Ihrer Heimatgemeinde Patsch?
Maria Ginther:
Ja, eine ausgesprochen gute Verbindung sogar. Gerade am 15. August habe ich meinen 100. Geburtstag in Patsch gefeiert. Und auch sonst bin ich immer wieder einmal in Patsch. Je älter ich werde, umso mehr ist Patsch Heimat für mich geworden – die Liebe zum Heimatort wurde ausgeprägter. Weil ich auch in Patsch für kurze Zeit Lehrerin war, besuchen mich auch heute noch manchmal meine Schüler von damals, was mich außerordentlich freut.

BB: Gibt es rund um das Kriegsende 1945 Erlebnisse, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Maria Ginther:
Das Kriegsende habe ich in Patsch miterlebt. Unsere Familie war die erste, die ausquartiert worden ist, als die Besatzung kam. Wir sind dann bei Verwandten untergekommen. Im Allgemeinen hat man zu dieser Zeit einfach sehr viel Angst gehabt, weil man nicht wusste, was passieren wird. Ich kann mich noch an einen Tag erinnern, als zwei Weinhändler nach Patsch gekommen sind: Sie haben gesagt, dass man mit einem gut verschließbaren Gefäß kommen soll, weil sie den Wein, den sie noch im Lager haben, in der Gemeinde verteilen wollen, damit er nicht in die Hände der Besatzung kommt. Not leiden mussten wir im Krieg selbst keine, bescheiden war man damals sowieso.
BB: Wenn Sie auf die vergangenen 100 Jahre schauen – was sind die größten Veränderungen im Leben und der Einstellung der Menschen?
Maria Ginther: Früher musste man Angst haben, wenn es um politische Einstellungen ging – heute muss man das nicht mehr. Außerdem sind die hierarchischen Strukturen flacher geworden und damit umgänglicher. Ich sehe auch, dass man heute viel freier leben kann als früher.

BB: Was raten Sie Menschen, die auch ein so erfülltes, langes Leben haben wollen wie Sie?
Maria Ginther:
Manchmal sitze ich auf der Eckbank und frage mich selbst, warum immer noch alles so gut läuft (lacht). Aber etwas, was mir immer sehr geholfen und mir Halt gegeben hat, ist mein Glaube. Auch wichtig ist, dass man das Ziel, das man erreichen will, konsequent verfolgt und Pflichtbewusstsein an den Tag legt. Ich denke mir auch manchmal, dass es einfach das Erbe ist, das man in sich trägt: Meine Mutter war eine sehr lustige Frau und außerdem tüchtig, mein Vater war religiös. Das ist das Erbe, das mein Bruder und ich mitbekommen haben.

Das Interview führte Katharina Ranalter

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