Fortsetzung: Vertrieben (6)

Foto: Bayrischer Rundfunk

Die wahre Geschichte eines kleinen Mädchens

Autorin: U. Hillesheim ©

In jenem Herbst 1944 wird in der Schule oft von feindlichen Flugzeugen gesprochen. Sogar unser sehr geliebter Religionslehrer, „Herr Rat“ (Geistlicher Rat Karl Heimer) erwähnt im Religionsunterricht, dass es die Nachkommen von „Cham“ (= Ham, Sohn des Noah) sind, „die unsere deutschen Städte zerstören“. Wir üben richtiges Verhalten bei Fliegeralarm. Rasch, doch ohne Panik soll man die Klasse verlassen. Jedes Kind hat seinen eigenen Kleiderhaken und muss seine Kleider nicht lange suchen. Und jedes Kind weiß, wen es bei der Hand zu fassen und wie es sich einzureihen hat, damit der Weggang geordnet erfolgt. Und dann sogleich in den Luftschutzkeller. Beim Angriff im Freien nicht stehen bleiben! Sofort auf den Boden werfen! All dies können wir bald wie im Schlaf. Auch die entsprechenden Filme führt man uns vor.

Die feindlichen Flugzeuge würden oft Flugblätter abwerfen, sagt unsere Lehrerin. „Aber ihr dürft sie auf keinen Fall lesen, sondern den Abwurf sofort bei der Polizei melden. Und wenn ihr seht, dass sie jemand liest, müsst ihr ihn anzeigen. Der ist nämlich bestimmt ein Verräter. Auch schönes Spielzeug, Puppen zum Beispiel, werfen die Feinde ab. Hebt sie ja nicht auf. Die sind vergiftet oder explodieren sofort“. Einmal sehe ich selbst, wie Flugblätter niedergehen und natürlich habe ich keines von ihnen berührt. Auch merkwürdige Staniolstreifen fallen vom Himmel herab, häufig sogar. Wozu sollen die gut sein? Erst lange nach dem Krieg haben wir erfahren, dass mit ihrer Hilfe das Radarsystem der Deutschen gestört oder ausgeschaltet werden sollte.

Riesige Plakate tauchen auf den Litfasssäulen auf. So habe ich sie in Erinnerung: Auf schwarzem Hintergrund schräg eine schlitzäugige, gespensterhaft gelbe Gestalt. „Feind hört mit“! steht dabei. Spione sind überall, heißt es. „Was ist ein Spion“, fragen wir in der Schule. „Das sind Leute, die uns an die Feinde verraten wollen. Wenn ihr beobachtet, dass jemand auffällig nach Fabriken, Soldaten, militärischen Dingen und Ähnlichem fragt, dann müsst ihr das augenblicklich der Polizei bekannt geben. Denn das könnte ein Spion sein“. Und es gab wohl kaum eine in der Klasse, die sich nicht glühend gewünscht hätte, einen Spion zu entlarven.

Empört erzählen einige Kinder unserer Lehrerin, dass im Elternhaus der Holzer Grete die Fenster nicht richtig verdunkelt waren und Licht nach außen durchkam. Das sei ganz schlimm, findet die Lehrerin, denn so wird ja den feindlichen Fliegern das Ziel zum Bombenabwurf gewiesen. Das Mädchen wird vor der ganzen Klasse gerügt und ermahnt. (Grete gehört zu den ausgegrenzten Kindern in unserer Klasse. Sie ist hübsch, hat feine Gesichtszüge, gilt aber als dumm und ist überaus ärmlich und meistens schwarz gekleidet. Ihr Elternhaus wird als asozial angesehen. Die Kinder aus „besseren Kreisen“ behandeln sie wie Luft. Meist sitzt sie nur stumm in der Bank. Nie habe ich jemals auch nur ein Wort mit der Holzer Grete gesprochen.)

Seit geraumer Zeit sind neue Mädchen in unserer Klasse. „Bombengeschädigte“ sind es, so wird uns erklärt. Ihre Familien wurden aus dem Ruhrgebiet hierher geschickt. Denn unsere abgelegene Heimat gilt als sicher vor Luftangriffen. Eins der Mädchen ist dunkelhaarig und still. Wir beachten es wenig. Eine andere aber, die große, blonde und kecke Hanna Jensen aus Duisburg (oder Düsseldorf?), steht bald an der Spitze der Klasse und jede will mit ihr befreundet sein.

Fortsetzung folgt

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