Interview mit Schriftstellerin Gertraud Klemm:
"Familie: Ein Modell passt nicht für alle"

- Gertraud Klemm, begehrte Interviewpartnerin
- Foto: Frauenfunk
- hochgeladen von Gabriela Stockmann
BEZIRKSBLÄTTER. Romane-Schreiben ist ja bekanntlich eine einsame Sache. Was tun, wenn die Kinder endlich in der Schule und der Mann auf Dienstreise ist und sich die Inspiration doch nicht auf Knopfdruck erzeugen lässt?
GERTRAUD KLEMM: Rechnungen stellen, aufräumen, Zeitung lesen. Die kommt schon wieder! Das ist das Schöne an Frauenthemen: alles ist Baustelle, überall ist Inspiration, ständig stolpere ich drüber.
Home Office, Home Schooling und Ausgangssperren: Wie haben Sie sich in der Coronazeit Freiraum zum Schreiben geschaffen? Haben Sie ein Zimmer für sich allein, in das Sie immer flüchten können? Und reicht das?
Ja, ich hab jetzt eine Schreibklause in Wien, in der ich zwei Tage am Stück arbeite. Das ist besser organisierbar als die längeren Klausuren, die ich früher gemacht habe. Das „Distance Learning“ war für uns kaum machbar. Meiner Meinung nach wird da viel Kosmetik betrieben; das wird uns noch einholen.
Das Grundthema Ihres Schreibens ist ja nach wie vor die Unterdrückung bzw. die Emanzipation der Frauen. Für Ihre rebellische Texte haben Sie eben den renommierten Ernst Toller-Preis bekommen. Messen Sie Ihr eigenes Leben, Ihren eigenen Status von Emanzipation oder Unterdrückung, an Ihren Texten? Mit anderen Worten: Zu wieviel Prozent leben Sie so emanzipiert, wie Sie sich das für die Frauen generell wünschen?
Die Frauen und Männer in meinen Texten haben ein geregelteres Leben als wir. Unsere Arbeitszeiten sind phasenabhängig. Manchmal sind wir gleichzeitig daheim, dann wieder geben wir einander die Türschnalle in die Hand. Beide können alles unterschiedlich gut, auf Kosten der Perfektion. Über den Kamm geschert würd ich sagen zu 75% entspreche ich meinem Emanzipationsbegriff.
Wie modern ist aus Ihrer Sicht der Begriff der Familie? Ist eine nicht-patriarchale Familie überhaupt zu denken? Wo jeder und jede ganz selbstverständlich bügelt, Müll rausträgt, Hosen flickt, kocht, Einkäufe erledigt und Energie spart?
Die Kleinfamilie ist ein schöner Gedanke, aber bei einer Scheidungsrate von 44% (NÖ) braucht es ein Alternativmodell, das die Alleinerzieherinnen auffängt. Matriarchale Systeme waren und sind so strukturiert, dass die Haus-, Feld- und Betreuungsarbeit gleichwertig sind, alle werden aufgefangen. Da sind wir schnell bei den Rudeln, die ja auch oft matriarchal organisiert sind. In der Theorie halte ich die Kleinfamilie für hochproblematisch, in der Praxis lebe ich sie ganz gut. Der Spagat kann schon ziehen.
Wie würden Sie Familie definieren? Braucht es den Begriff überhaupt noch?
Im besten Fall ein Hort, in dem Menschen lebenslang, verlässlich und liebevoll füreinander da sind. Im schlechtesten Fall ein Gefängnis, in dem Verwandte einander ausgeliefert sind. So lange Menschen in Familien leben, braucht es diesen Begriff unbedingt!
Kann Demokratie in einer Familie funktionieren?
Nein. Kinder sind aus gutem Grund nicht wahlberechtigt. Demokratie ist ja Mathematik. Ich finde Soziokratie spannender, die entscheidet nach Konsens und nicht nach Zahlen. Ich kenne großartige Wohnprojekte, die soziokratisch geplant haben und leben, leider sind solche „Familien“ viel zu wenig bekannt.
Von welcher Familie haben Sie als Kind geträumt?
Ich habe die Kleinfamilie als Norm begriffen, aber dass die Hausarbeit an den Frauen hängen bleibt, ist mir schon früh als fauler Deal vorgekommen. Geträumt habe ich von ganz anderen Dingen – von Pferden zB, oder davon, fliegen zu können. Familie, dachte ich, das geht automatisch. Das ist vielleicht das Problem: dass Familie nicht erträumt wird, sondern unhinterfragt nachgelebt. Das eine Modell passt halt nicht für alle gleich gut.


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