1918: "Im Bezirk Kufstein herrscht eine förmliche Hungersnot"

"Die Kufsteiner Hausfrauen gegen die Hungersnot" titelte die Grenzbote 1918 und schilderte die kleine Revolte von rund 300 Kufsteinerinnen. | Foto: Tiroler Grenzbote/Wieser
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  • "Die Kufsteiner Hausfrauen gegen die Hungersnot" titelte die Grenzbote 1918 und schilderte die kleine Revolte von rund 300 Kufsteinerinnen.
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BEZIRK (nos). "In diesem schrecklichen Kriege ist ja sozusagen jeder Tag ein Aschermittwoch", stellte der "Tiroler Grenzbote nach Ende des vierten "Kriegsfaschings" im Februar 1918 fest. Die Zeit der "satten und fetten" Jahre war in der Festungsstadt nur noch eine fahle Erinnerung, schon seit geraumer Zeit dominierte die kriegswirtschaftliche Mangelversorgung das Leben der Bürger in der Festungsstadt wie auch in den weiteren Gemeinden im Bezirk und im ganzen Land Tirol. Auch der damalige Landeshauptmann Schraffl sprach gegenüber Ministern von "einer förmlichen Hungersnot" in den Bezirken Reutte, Kufstein, Sillian und Brixen.
Das Militär verlangte nach Versorgung für die noch immer in Tirol zusammengezogenen und kämpfenden Truppen – aus Russland war gerade erst die "Friedensbotschaft" eingelangt. Zumeist geschah die Ausspeisung der Soldaten auf Kosten der Bevölkerung. Fleisch, Mehl, Obst, Kartoffeln und Zucker wurden immer rarer und damit in den Geschäften auch teurer, der Schwarzmarkt und der Schleichhandel blühten gerade entlang der Bahnstrecken enorm auf. Rationierungen waren dabei schon zuvor in den Alltag der Kufsteiner getreten, doch auch die kärglichen Zuweisungen konnte der Staat nicht mehr erfüllen. Halbe Rationen und teils gänzlich ausbleibende Versorgungslieferungen waren keine Seltenheit im Jahr 1918.

Mangelwirtschaft und Rationierungen

Die Zeitungen sprachen 1918 von einer "großen Mehl- und Brotnot in Tirol". Der "Grenzbote" rechnete beispielsweise für eine Woche im Juni vor: "So war der Bedarf an Mehr von 17. bis 23. Juni 102 Waggons, eingelangt sind aber nur 13,5 Waggon. Aus dieser Belieferung kann jedermann ermessen, wie sehr Tirol hungert." Für 600.000 Menschen sollte daraus Brot gebacken werden. Regelmäßig gab die Zeitung den Versorgungsstand Tirols mit Mehl wider, wobei die Abgänge die Anlieferungen bei weitem überwogen.
Kartoffellieferungen aus Bayern waren Gegenstand der Gerüchteküche und mussten mehrfach von Zeitungen und Behörden dementiert werden. Die Bayern brauchten ihre letzten Vorräte selbst. Ab 26. Juni war es verboten in Österreichs Gasthäusern frisches Obst abzugeben, gleichzeitig stieg der Preis von Moosbeeren. "Wo soll das noch hinführen?", fragte der "Grenzbote".
20.000 Stück Schlachtvieh forderte das Heeresgruppenkommando des Feldmarschalls v. Konrad im Frühjahr 1918 von den Ländern Tirol und Vorarlberg, um das Militär zu verköstigen. Die Tiroler entgegneten, die "Viehrequirierungen" nicht mehr in dieser Form erfüllen zu können und man dafür bestes Zuchtvieh opfern müsse. Das Heer solle Ungarn stärker in die Pflicht nehmen, meinte die Abordnung. Das "Amt für Volksernährung" schloss einen Vertrag mit einer ungarischen Mastanstalt ab – über 30.000 Schweine für ganz Österreich.
Einige Monate später forderte der "Grenzbote" zum wiederholten Male die Einführung einer "Fleischkarte" in den Wirtshäusern und Gaststätten in ganz Tirol, nachdem der Kufsteiner Gemeinderat eine solche beschließen wollte. "Im Deutschen Reich ist rechtzeitig die Fleischkarte eingeführt wurden; bei uns kommt sie, wenn man nur noch die Karte bei kein Fleisch mehr geben kann", meinte das Blatt lakonisch.

Zuvor wurden beispielsweise auch schon Marmelade und Sauerkraut rationiert und nur gegen Vorlage einer Ausweiskarte ausgegeben. Ein Viertel Kilo Sauerkraut pro Woche durfte pro Person gekauft werden, wer mehr als zwei Kilo pro Kopf zuhause hatte, war von der Verteilung ausgeschlossen. Mehlspeisen bekam man in den Gasthäusern und Kriegsküchen Kufsteins nur noch gegen eine 50-Gramm-Brotmarke.
Eine solche Kriegsküche war der damalige Gasthof Buchauer, wo im Tausch gegen die entsprechenden Brot- und Mehlmarken Wochenkarten für sieben Mittagessen erstanden werden konnten. Sie wurde so stark besucht, dass teilweise keine zusätzlichen Anmeldungen mehr vorgenommen werden konnten. Über 3.100 Mittagessen wurden hier 1918 wöchentlich ausgegeben.
Auch Arbeiter der Firma Pirlo wurden über eine Kriegsküche verköstigt, wobei es zu Auseinandersetzungen mit dem Wirtschaftsrat der Stadt kam, als diese sich weigerten, ihre Essensmarken abzugeben.
Ebenso kamen die Händler aufgrund eines "Übelstandes" in den Fokus der Behörden und wurden gegen Strafandrohung darauf hingewiesen, die Waren in ihren Schaufenstern sichtbar, unmissverständlich und leserlich auszupreisen.

Regen Zulauf erhielt der Vortrag des Rotholzer Fachlehrers Anton Falch, der in Kufstein für den Obst- und Gemüsebauverein über Kleingartenbewirtschaftung referierte. Anzeigen für Gemüsesaaten und Kleintierzucht-Prospekte – Möglichkeiten zur Selbstversorgung wurden im "Grenzboten" stark beworben.

Kleine Hausfrauenrevolte

Als im August 1918 Tirols Landeshauptmann "am Edschlössl weilte" schickte die Stadt eine Abordnung, um für die hungernde Bevölkerung Hilfe zu erbitten. Zuvor zogen rund 300 Frauen, teils mit ihren Kindern, an die Bezirkshauptmannschaft am Unteren Stadtplatz, wo auch Bürgermeister Josef Egger und zahlreiche Gemeinderäte versammelt waren. Die Herren sowie sechs Hausfrauen trugen dann BH Freiherr von Riccabona die Beschwerden der Bevölkerung zur Versorgungslage vor. Während die Bevölkerung im Bezirk zusehen müsse, wie Milch, Butter und Käse in großen Mengen nach Innsbruck und weiter abtransportiert würden, seien die im Gegenzug zugeteilten Rationen viel zu gering bemessen, klagten die Frauen. "Das entschiedene Auftreten der Kufsteiner Hausfrauen, die sich wahrlich lange genug in Geduld geübt hatten, war nicht ohne praktischen Erfolg", so der "Grenzbote". Der Magistrat teilte kurzfristig Kartoffeln (1kg/Kopf) und Mehl (20dag/Kopf) an die Bevölkerung aus.

Wer sich mit den rationierten Gütern nicht zufrieden geben wollte, oder wer sich mit selbst gemachtem ein einträgliches Geschäft versprach, der versuchte sich unter der Hand auf dem Schwarzmarkt. Der Mischung aus Einfallsreichtum und krimineller Energie waren dabei offenbar wenig Grenzen gesetzt, wie ein Blick in die damaligen Zeitungen offenbarte.
"Es gibt auch bei uns noch Mehl genug, man muss nur die Quellen wissen und verstehen, entweder tüchtig in den Geldbeutel zu greifen, oder ein entsprechendes Tauschgeschäft zu machen", erklärte der "Grenzbote" anhand einer eher kuriosen Begebenheit in der Umgebung der Festungsstadt. Dort versprach "ein alter Herr der jungen und hübschen Wirtin eines Gasthauses" im Gegenzug für einen Kuss "fünf Kilo feinstes weißes Mehl". Sie willgte allerdings nicht ein, "so musste der alte verliebte Knabe trockenen Mundes wieder abziehen".

Auch die strengen Strafen der Behörden hielten die Schieber und Gauner dabei nicht von ihren krummen Geschäften ab, die nicht nur auf lokale Kundschaft schielten, sondern oft auch als "Spekulanten" unterwegs waren. "Es vergeht fast kein tag, an dem nicht solch gewissenlose Zwischenhänder erwischt werden", erklärt der "Grenzbote".
Dementsprechend wurde im Sommer 1918 auch der "Rucksackverkehr" mit unter 5 kg Kartoffeln zur Eigenversorgung verboten, was zuvor trotz Beschlagnahme der gesamten Ernte noch geduldet wurde.
Im Sommer 1918 wurde ein Dienstmann in Kufstein aufgegriffen, der zwei schwere Kisten zum Bahnhof bringen wollte. Darin fanden sich aber nicht die ausgewiesenen Kleidungsstücke, sondern 155 Kilo Schweinefleisch, die ein Erler Bahnangestellter nach einer "schwarzen" Schlachtung in einem Sparchener Gasthof gewinnbringend weiter geben wollte. Es hätte nach Trient geschmuggelt werden sollen, wo sich noch höhere Preise hätten erzielen lassen. Auch ein Kalb hätte in einem Koffer, als "Kleidungsstücke" beschriftet, aus Kufstein geschmuggelt werden sollen. Die Stadtpolizei ließ die Schleichhändler an der Bahn auffliegen. Branntwein, Schafwolle, Tierfett – mit allerlei gehamsterten und ergaunerten Waren versuchten Manche, sich einen finanziellen Vorteil zu verschaffen.
Wohin der Inhalt mehrerer von einem Kufsteiner Kaufmann für den Fasching 1918 bestellten Champagner-Flaschen auf der Bahnreise aus der Steiermark verschwand, bleibt wohl im Nebel der Geschichte. Unbekannte hatten den Champagner gegen Wasser ausgetauscht. Der Schaden von mehreren Hundert Kronen musste von der Bahnverwaltung ersetzt werden.

"Pflichtvergessene Weiber"

Doch nicht nur der Schleichhandel sondern auch das Verschenken rief die Behörden und den "Grenzboten" auf den Plan, der sich über "pflichtvergessene Weiber ohne jedes patriotische und moralische Gefühl" echauffierte. Diese würden "gewichtige Lebensmittelpakete" an russische Kriegsgefangene senden, während "unsere Mitbürger in den Städten oft den härtesten Mangel leiden". Neben der Androhung der Höchststrafe wurden die "Täterinnen" auch in den Dörfern und dem Grenzboten öffentlich gemacht, so etwa "eine gewisse Anna Raß aus Ellmau", deren volle Anschrift ebenso abgedruckt wurde, wie die Anschuldigung: Sie hatte über eines ihrer Kinder ein 3kg schweres Lebensmittelpaket mit Brot und Fleisch an einen Kriegsgefangenen versenden lassen, der zwei Jahre zuvor bei ihr als Zwangsarbeiter eingesetzt war. "Gegen solche schamlosen Weiber mit mit voller Strenge und Härte vorgegangen werden!", erklärte der Grenzbote. Ebenso lag der Tenor in Kufstein über Frauen, die durch Blicke oder Winken Kontakt zu auf der Festung internierten Gefangenen aufnahmen.
Überhaupt war der Umgang mit Kriegsgefangenen und deren Versorgung in Kufstein ein heikles Thema, war es doch manchen durchaus erlaubt ihre Haft in Gasthäusern in der Stadt zu verbringen und auch auszugehen. Je weiter der Krieg voranschritt, umso größer wurde darob die Empörung der Kufsteiner und des "Grenzboten", besonders gegenüber Serbischen und Italienischen Gefangenen. "Das freie Herumlaufen der Italiener" wurde von der BH Kufstein daraufhin "abgestellt".

Zudem machte sich just im Sommer 1918 die "Spanische Krankheit" in Tirol breit, so nicht nur in Innsbruck und Rovereto sondern auch in Kufstein, wo "eine Anzahl von Militärs- und Zivilpersonen" an der Grippe erkrankten, die Europaweit bis zu 50 Millionen Opfer bis 1925 fordern sollte.

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