Reportage: „Hunderte verhungern und erfrieren in ihren Häusern"

In dieser Behausung wurde die fünfköpfige Familie kurz vor dem Winter gefunden.
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  • hochgeladen von Oswald Hicker

Rund um einen ausgeschlachteten Kastenwagen sind Tücher auf ein Holzgerüst gespannt. Als Tür dienen Fetzen. Jeder Windhauch bläht die Behausung auf einem Feld nahe der moldauischen Hauptstadt Chisinau bedrohlich auf. Im Bauch der Notunterkunft aus Lumpen kauert eine fünfköpfige Familie. Ohne Wasser, ohne Strom, ohne Feuerstelle. Ohne Perspektive, den nahenden Winter zu überleben. In diesem Zustand fand eine Sozialarbeiterin der Hilfsorganisation Concordia die Eltern Alexandru und Dojna Z. mit ihren Kindern Alexandra (5), Madline (6) und Anastasia (2). Das war am 27. August. Dann ging alles Blitzschnell. Die Concordia-Mitarbeiter setzten sich bei den Behörden ein. Der Bürgermeister schenkte der Familie die 600 Quadratmeter Grund rund um die Notbehausung. Aus Spenden wurden Baumaterialien organisiert. Vater Alexandru organisierte Helfer. Anfang November hat die Familie nun ein Dach über dem Kopf.

Durchschnittseinkomen 120 Euro, Lebensmittelpreise wie in Österreich

Michael Zikeli, Präsident von Concordia Moldau: „Das Haus hat keinen Strom, kein Wasser, keine Toilette, aber es bietet Schutz. Nun müssen wir schauen, dass wir Brennholz organisieren, dann schafft es die Familie zumindest über den Winter."
Schicksale wie dieses sind weit verbreitet in der Republik Moldau, dem vergessenen Armenhaus Europas. Das Land an der Grenze zur Ukraine besitzt keine Industrie, einzige Wirtschaftskraft ist der fruchtbare Boden. Doch seit die EU Sanktionen gegen Russland verhängt hat, dürfen die Bauern ihre Äpfel, ihre Feldfrüchte und ihren Wein nicht mehr an Moskau verkaufen. Ihnen fehlt somit ihre einzige Einnahmequelle. Die wenigen, die einen Job haben, können aber auch kaum überleben. Ein durchschnittliches Monatseinkommen beträgt 120 Euro, die Preise für Lebensmittel oder Hygieneartikel oder Treibstoff sind aber gleich hoch wie in Österreich. Nur kleine Gemüsegärten, Hühner und Enten oder Ziegen sichern das Überleben.

Keine Perspektiven: Die Jungen gehen, zurück bleiben verlassene Kinder und Alte

Jeder der besser ausgebildet oder kräftig genug ist verlässt das Land. Zurück bleiben Kinder und Alte. So wie Alexander (10). Seine Eltern haben ihn und seine zwei kleineren Geschwister bei der Großmutter zurückgelassen. Im Oktober des Vorjahres starb die betagte Frau, Alexander brachte seine kleinen Geschwister ganz alleine durch den Winter. Mit eingekochten Lebensmitteln der Großmutter, mit Betteln und mit Stehlen. Erst im April entdeckten Sozialarbeiter die schwer traumatisierten Kinder in der Lehmhütte. Nun sind sie in einer Betreuungseinrichtung von Concordia, haben es warm und zu essen. Alexander lernt gut und hat die versäumte Schule beinahe aufgeholt. Doch so sehr sich die Mitarbeiter der Betreuungseinrichtung bemühen, eine Familie können sie den Geschwistern nicht ersetzen.

45 Euro Pension, alt und keine Spur vom Sohn

Concordia betreibt in der Republik Moldau zehn Sozialzentren und 29 Suppenküchen, insgesamt versorgt die Organisation 5.000 Menschen mit dem Notwendigsten. Pro Jahr verteilen die 400 Mitarbeiter 100 Tonnen Kartoffel, 54.000 Eier, 80 Tonnen Brot und tausende Festmeter Holz. Während für Lebensmittel der Großteil des Budgets aufgewendet wird, hängt die Menge von Brennstoff direkt vom Spendenaufkommen ab. Maximal vier Festmeter erhält ein Haushalt im Jahr, ein Festmeter kostet 35 Euro. Einer der Empfänger ist Ivan (67) im Dorf Vatici. Der ehemalige Gärtner sieht nicht aus wie ein gleichaltriger Österreicher. Ivan ist abgearbeitet, hält sich an seinem Gehstock fest als er vor seinem Haus auf den Pferdewagen mit den Baumstämmen wartet. Sein Haus ist völlig desolat, Dach und Fenster sind undicht, der Wind pfeift durch die Hütte. Seine 45 Euro Pension braucht der ehemalige Gärtner für die notwendigsten Nahrungsmittel, für Holz und Medikamente bleibt kein Geld über. Ivan lebt alleine, seine Frau ist gestorben und von seinem Sohn hat er seit drei Jahren nichts mehr gehört. Ohne das Brennholz und und die warmen Mahlzeiten von Concordia würde er diesen Winter wohl nicht überleben. Jedes Jahr verhungern oder erfrieren hunderte alte Menschen in Moldau in ihren Hütten.

Hilfe zur Selbsthilfe: Schafe als Grundlage für eine Existenz

Concordia kann nicht alle retten. Und kann die Versorgung für Kinder, alleinerziehende Mütter, Jungfamilien und Alte auch nicht ewig sicherstellen. Eine Strategie ist es, jene die noch können bei der Selbsthilfe zu unterstützen. Ein solches Projekt wurde in der Ortschaft Tabara gestartet. Sechs Familien mit insgesamt 18 Kindern können sich wieder selbst erhalten. Concordia schloss Verträge mit den Bauern ab und besorgte rund 60 Schafe und Ziegen. In fünf Jahren müssen sie diese Anzahl an Jungtieren wieder an die Organisation zurückgeben. In der Zwischenzeit haben sich die Familien aber eine größere Herde und somit die Existenzgrundlage mit der Produktion von Käse geschaffen.

Das Land verbuscht oder wird von Hand bearbeitet, weil ein Acker oft 800 Besitzer hat

Fläche für derartige Projekte gäbe es genug. Viele Felder mit fetter, schwarzer Erde liegen brach oder verbuschen. Doch genutzt kann das Land oft gar nicht werden. Als vor 25 Jahren die Sovjetunion zusammenbrach, war die Landwirtschaft in riesigen Kolchosen organisiert. Danach wurde das Land zu gleichen Teilen an die Bevölkerung verschenkt. Bürgermeister Oleg Stavila aus Getlova sitzt vor einem Plan, mit tausenden wirren Linien. Es ist der Katasterplan seiner Ortschaft, dieser ähnelt eher einem wirren Gekritzel, angefertigt gedankenlos neben einem Telefongespräch. Bürgermeister Stavila erklärt: „In unserer Ortschaft gab es 800 Familien. Die Kolchose wurde auf diese Familien aufgeteilt. Aber nicht so, dass jeder ein Stück Acker bekam. Jeder hat ein Stück von jedem Acker bekommen. Jeder hat ein paar Apfelbäume, eine Zeile Weinstöcke, etwas Weideland bekommen. Nun sind die Flächen völlig zerissen, oft sind die Äcker nicht einmal so breit, dass ein Traktor daraufpasst, sie werden händisch bearbeitet. Wenn jemand größere Flächen bewirtschaften will, muss er von 800 Eigentümern pachten. Viele davon sind längst verstorben, und Erben sind unbekannt oder unauffindbar.“

Nach mehr als 70 Jahren Kommunismus ist Grundbesitz heilig

Dass eine Landreform dringend nötig ist, weiß Bürgermeister Stavila. Nur ist das nicht so einfach: „Viele Familien weigern sich zu verkaufen, denn sie hätten seit der Wende eigentlich jedes Jahr Grundsteuern abführen müssen. Da das Geld aber niemand hatte, blieben sie es dem Staat schuldig. Bei einem Verkauf würde die Steuer aber abgezogen, viele würden sogar noch draufzahlen. So behalten sie wenigstens das Land und die Bäume um zu überleben." Die zweite Methode, eine Zwangszusammenlegung oder gar Enteignung ist allerdings auch undenkbar. Stavila: „Nach mehr als 70 Jahren Kommunismus ist uns der Privatbesitz heilig. Grund und Boden sind unantastbar."

Concordia kann nicht alle retten, ist eine soziale Feuerwehr

In einem Land mit derart groben Strukturmängeln, ist die Hilfe von Concordia nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Präsident Michael Zikeli versucht trotzdem Optimist zu bleiben: „Wir sind soetwas wie die soziale Feuerwehr. Entstanden sind wir als Kinderhilfswerk, weil die Not aber derart groß ist, haben wir unser Angebot ausgeweitet. Wir wollen den Leuten Mut geben. Wer von uns Schafe, eine Kuh, Holz oder Grundnahrungsmittel bekommt, fasst auch wieder Zuversicht sich selbst zu helfen. Es sind kleine Schritte, aber irgendwer muss beginnen den Weg zu gehen."

Zur Sache: Concordia

Die Hilfsorganisation Concordia wurde 1991 vom österreichischen Jesuitenpater Georg Sporschill gegründet. Ursprünglich galt die Hilfe den Straßenkindern in Rumänien, im Laufe der Jahre entstand auch der Tochterverein in Moldawien. Letzterer verfügt über ein Jahresbudget von zwei Millionen Euro. Ein Drittel kommt aus Kleinspenden, ein Drittel von Wirtschaftspartnern wie der Strabag und ein Drittel sind institutionelle Gelder, etwa aus Sozialstiftungen. Concordia Moldau betreibt zehn Sozialzentren und 25 Suppenküchen, die 400 Mitarbeiter versorgen insgesamt 5.000 Menschen mit Holz, Nahrung, Obdach, Medizin und Sanitäreinrichtungen.

Zur Sache: Republik Moldau

Die Republik Moldau grenzt im Westen an Rumänien. Im Norden, Osten und Süden wird die Republik Moldau vollständig von der Ukraine umschlossen, so dass kein direkter Zugang zum rund 50 bis 100 Kilometer entfernten Schwarzen Meer besteht. Der Landesteil Transnistrien wurde von Russland besetzt, als sich die ehemalike Sovjetrepublik von Moskau lossagte. Ein blutiger Bürgerkrieg war die Folge.
Auf 33.8431 Quadratkilometer (Etwa die Fläche Niederösterreichs und der Steiermark) leben knapp drei Millionen Menschen. Hauptwirtschaftszweig ist die Landwirschaft, Hauptabnehmer ist Russland. 2014 unterzeichnete die Republik Moldau mit der Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU. Was bedeutete, dass das kleine Land zwar nicht EU-Mitglied ist, aber das Embargo gegen Moskau voll mittragen muss. In Folge brach der größte Exportpartner von einem Tag auf den anderen weg und die wenigen Betriebe des Landes stehen vor dem Ruin.

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