Gedenkstätte
Ehemaliges KZ Gusen: "Kein Geheimnis hinter dem Geheimnis"
Das Mauthausen Memorial startete einen Themenschwerpunkt zum ehemaligen KZ Gusen. Ein Dialogforum befasste sich nun anlässlich der geplanten Erweiterung der Gedenkstätte Mauthausen mit Fakten und Fiktionen über Gusen.
BEZIRK PERG. Forscher, Gedenkinitiativen und Mitarbeiter verschiedener NS-Gedenkstätten beschäftigten sich beim zwölften Dialogforum Mauthausen zwei Tage lang mit dem ehemaligen Konzentrationslager Gusen. Das Dialogforum wurde heuer aus der Gedenkstätte Mauthausen und aus dem Ars Electronica Center Linz zur virtuellen Teilnahme übertragen. Die Veranstaltung bildete den Auftakt für einen Forschungsschwerpunkt zum KZ-Komplex Gusen anlässlich der geplanten Erweiterung der Gedenkstätte Mauthausen. Die Referenten beschäftigten sich mit Fakten und Fiktionen zu Gusen und diskutierten über Möglichkeiten, den Erinnerungsort zu gestalten.
Lager Gusen lange nicht präsent
Während die Mauern des Lagers Mauthausen sichtbar als Mahnmal stehen, seit das Areal in der Nachkriegszeit zur Gedenkstätte erklärt wurde, liegt der Stollen "Bergkristall" unter der Erde. Von den drei Gusen-Lagern, in denen jene KZ-Häftlinge untergebracht waren, die unter unmenschlichen Bedingungen Granit abbauen und den Stollen graben mussten, blieben kaum bauliche Überreste. Gusen II wurde von den Amerikanern wegen grassierender Seuchen niedergebrannt. Erst in den vorigen paar Jahren rückte Gusen in die öffentliche Wahrnehmung. Heute ist bekannt: Im acht Kilometer langen Stollen mit dem Tarnnamen "Bergkristall" befand sich eine Rüstungsproduktion, wo unter anderem Flugzeugteile hergestellt wurden.
Ein Geheimnis hinter dem Geheimnis?
Unter der Erde war die Fabrik vor Bombenangriffen geschützt und vor den Augen der Feinde versteckt. Dass es noch ein "Geheimnis hinter dem Geheimnis" gab, lehnt das wissenschaftliche Team der Gedenkstätte ab. Es gebe keine stichhaltigen Hinweise darauf, dass die Nazis in Bergkristall an Atombomben geforscht hätten. Vor allem die Filme des Wartbergers Andreas Sulzer befeuerten in der jüngeren Vergangenheit Theorien, dass das Stollensystem weit größer gewesen sei. Sulzer vermutet in den zwei ZDF-Dokus auch, dass sich ein Häftlingslager unter der Erde befunden hätte und 18.000 Tote in den offiziellen Aufzeichnungen fehlen würden. Memorial-Mitarbeiter Christian Dürr schreibt Sulzers Filmen „teilweise verschwörungstheoretischen Charakter“ zu, wies im Dialogforum auf Schwachstellen in den Recherchen hin und entlarvte einige der gestellten Thesen als haltlos. Was den Wissenschaftlern des Memorials sauer aufstößt: „Die Sensationslust lenkt von der Aufklärungsarbeit der Gedenkstätte ab."
Schwieriger Umgang mit belasteten Orten
Wie bei einigen anderen NS-Stätten auch, wurde über Gusen nach dem Krieg der Mantel des Schweigens gebreitet. Das Areal blieb in Privatbesitz, Wohnhäuser entstanden dort, wo früher SS-Leute mit ihren Familien wohnten. Dies wirft lange Schatten in die Gegenwart. Anrainer äußern Sorge, dass eine erweiterte Gedenkstätte in Gusen viele Besucher anziehen werde, die oft kein Verständnis für die Grundbesitzer zeigen. Vor ähnlichen Herausforderungen steht etwa der Ort Ebensee, wo Siedlungen auf ehemaligem KZ-Areal entstanden.
Konzept für erweiterte Gedenkstätte wird entwickelt
"Man kann nicht einen ganzen Ort zum Museum erklären", so die übereinstimmende Meinung im Dialogforum. Aber man müsse zumindest darauf hinweisen, was in Gusen früher war. Auch auswärtige Besucher müssten dafür sensibilisiert werden, dass heute nicht mehr jene Generation hier lebt, die nach dem Krieg die Baugründe erwarb. Für die Weiterentwicklung der Gedenkstätte brauche es auf jeden Fall "unglaublich viel Motivation, Visionen und einen langen Atem", so Barbara Glück, Direktorin des Mauthausen Memorials, für die feststeht: "Ich bin überzeugt: wir müssen das mit der Bevölkerung ausverhandeln, das kann nur gemeinsam mit der Nachbarschaft vor Ort passieren." Über das große Projekt sagt Glück: „Es beginnt für uns eine unglaublich spannende und herausfordernde Zeit, in der wir einen Ort weiterentwickeln dürfen, der nicht komplexer und vielschichtiger sein kann.“
Über das KZ-System Gusen
Mehr als 70.000 Häftlinge verrichteten in Gusen Zwangsarbeit, etwa 35.000 kamen aufgrund der elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen zu Tode oder wurden ermordet. Nach dem Krieg sprengten die Besatzer große Bereiche des Stollens. Weil Häuser deswegen vom Einsturz bedroht waren, wurden die Gänge Anfang der 2000er-Jahre mit Beton verfüllt. Im Oktober 2020 eröffnete die Bewusstseinsregion das "Haus der Erinnerung" neben dem heutigen Stolleneingang. Die Regierung kündigte im Mai 2021 an, Grundstücke des Gusen-Areals anzukaufen, die sich noch in Privatbesitz befinden. Das Mauthausen Memorial wird damit betraut, diese Bereiche in die Gedenkstätte zu integrieren. Heute sind noch 1,8 Kilometer des Stollens übrig, 300 bis 400 Meter davon begehbar. Von 21. bis 24. Oktober kann man den Stollen mit einer Führung besichtigen. Anmeldung nötig: info@mauthausen-memorial.org
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