Kommentar
Heimkehren

Christian Marold
RZ-Chefredakteur | Foto: RZ

„Hast du die Sachen erledigt, die ich dir aufgeschrieben habe?“ „Ja Schatz, habe ich. Warum bist du denn so nervös und bringst Unruhe in das Haus?“ „Weil die Kinder heute kommen und du weißt, dass ich alles perfekt haben möchte.“

Es ist alles perfekt. Schon seit Tagen. Und wenn etwas rumliegt, dann hat Martin das Gefühl, dass seine Frau wie ein kleiner Haushaltsroboter hinter ihm alles wegräumt und verschwinden lässt. Sogar die Tageszeitung ist schneller weg, als er sie lesen kann. Aber so ist das immer bis zum Heiligen Abend. Vorweihnachtlicher Stress erhöht die Vorfreude auf einen nahezu perfekten Abend. Heuer wird es etwas anders sein. Eine Tochter ist im Einsatz und es kommt nur Hannah, sowie Thomas mit seiner Familie. Und selbst Thomas muss bis kurz vor der Feier noch seinen Dienst verrichten.

Als Martin sich gemütlich mit einem Fotoalbum seiner Familie in seinen Ohrensessel fallen lässt, kommt ihm der Gedanke, dass er und seine Frau im Prinzip alles richtig gemacht haben. Alle drei Kinder haben einen Beruf gewählt, der anderen Menschen hilft. Heute sagt man, sie arbeiten in systemrelevanten Berufen. Thomas arbeitet in einem Pflegeheim, Hannah als Krankenschwester auf einer Intensivstation oder besser gesagt Covid-Intensivstation und die jüngste Tochter ist beim Roten Kreuz derzeit in Afghanistan im Auslandseinsatz. Gerade bei Karina machen er und seine Frau sich große Sorgen. Umso erfreulicher ist es, wenn sie sich heute gemeinsam zumindest per Videocall sehen und hören können. Das Telefon klingelt. Martin hört seine Frau immer nur sagen, dass sie sich keine Sorgen machen solle und der Abend werde dann eben nachgeholt. Er geht zu seiner Frau. Sie sieht traurig aus und hat Tränen in Augen. „Hannah kann nicht weg von der Station. Es ist jemand ausgefallen und die Zahl der Intensivpatienten wird nicht weniger. Ich habe ihr gesagt...“ Und da überkommt es Martins Frau und sie beginnt zu weinen. Martin nimmt sie in den Arm und versucht sie zu trösten.

Wenige Stunden später ist die Traurigkeit verschwunden, denn Thomas steht mit seiner Familie vor der Tür. Schnell setzen sich alle vor den viel zu kleinen Computer und klingeln bei Karina an. Die Verbindung ist erstaunlich gut und so können alle ohne ständige durch Verbindungsstörungen die Schilderungen von Karina anhören. Die Lage in Afghanistan sei dramatisch und so viel Elend habe sie zuvor noch nie gesehen. Das Schlimme daran aber sei, dass alle wegsehen und keiner mehr über die Situation berichten würde. Es sei nur eine Frage der Zeit, dass Afghanistan zum humanitären Katastrophengebiet erklärt werde.

Nach der „Videokonferenz“ und kurz vor dem weihnachtlichen Abendessen ruft Martin alle zusammen und gibt jedem eine Kerze in die Hand. Sie sollen symbolisch für Dankbarkeit und Demut stehen und leuchten. Dankbarkeit für das, was sie heute Abend haben dürfen und Demut gegenüber all diejenigen, die so einen Abend nicht erleben können und dürfen.

Als alle satt am Tisch sitzen, klingelt es plötzlich an der Tür. Martin und seine Frau sehen sich fragend an. Thomas hat sein typisch schelmisches Grinsen im Gesicht und möchte, dass beide die Tür öffnen. Vor der Tür stehen Hannah und Karina sichtlich erschöpft aber überglücklich. Alle fallen sich in die Arme und weinen. Vor Freude. Das Heimkehren und somit der Sinn von Weihnachten wurde wahr. Symbolisch zumindest für diese Familie in dieser nicht ganz wahren Geschichte, aber in einer wahrlich schwierigen Zeit.

Das gesamte Team der Regionalzeitungen wünscht allen besinnliche, ruhige und gesunde Feiertage!

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