MeinBezirk-Reportage
Karlsplatz aus Perspektive eines Sehbehinderten
Menschen mit einer Sehbehinderung nehmen ihre Umgebung ganz anders wahr. So auch die Plätze in Wien – wie etwa den Karlsplatz. Der sehbehinderte Dominic Schmid berichtet für MeinBezirk.at aus seiner Perspektive.
WIEN. Die Stadt aus anderer Perspektive: Dominic Schmid beschreibt spannende Orte in ganz Wien. Der stark sehbehinderte Journalist nimmt uns mit auf seine außergewöhnliche Reise durch die Bezirke. "So wie ich kommen täglich Dutzende Pendlerinnen und Pendler mit der U4 am Karlsplatz vorbei. Höchste Zeit, dass ich ihn mir einmal genauer anschaue!", so Schmid.
Hier seine Reportage für MeinBezirk.at:
Ich habe das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein und eine Veranstaltung besucht zu haben, aber ich kann mich nicht erinnern, was das war. Daran muss ich denken, als ich aus der U-Bahn steige. Viel Zeit bleibt mir nicht, denn kaum bin ich ausgestiegen, sind wir auch schon da. Kein Wunder, denn die U-Bahn-Station heißt Karlsplatz.
Groß und Klein bekommen hier Bildung
Zuerst fällt mein Blick auf ein Gebäude, das mir altehrwürdig vorkommt. Meine Begleiterin erklärt mir, dass es sich um die evangelische Volksschule handelt. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie es sein muss, am Karlsplatz zur Schule zu gehen. Als ich sie wieder öffne, gleitet mein Blick zum nächsten Gebäude.
Auch dieses sieht aus wie ein alter Prunkpalast und entpuppt sich als ehemaliger Teil der Technischen Universität. Wie es ist, hier am Karlsplatz die Volksschule zu besuchen, werde ich wohl nicht so schnell erfahren, aber wie es ist, hier zu studieren. Denn wie viele von uns kenne auch ich Studierende der TU Wien.
Sommerliche Erfrischung nach der Messe
Und plötzlich taucht vor uns etwas auf, das ich nur zu gut kenne. Es ist wieder ein Sakralbau - die Karlskirche. Mir fallen sofort einige Säulen auf, die vor der Kirche stehen. Sofort muss ich an das Brandenburger Tor denken, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich es gefühlte tausendmal im Fernsehen gesehen habe. Ich wende mich der Kirche zu und schließe die Augen. Die Luft riecht weder nach Autoabgasen noch nach Wald. Aber wie sollte sie auch? Schließlich gibt es nichts von beidem.
An mein Ohr dringt das Plätschern von Wasser und Kindergeschrei. Als ich die Augen wieder öffne, entdecke ich schnell die Quelle des Plätscherns. Direkt neben mir steht ein großer Brunnen. Das Wasserbecken, in dem er sich befindet, wird gerade ausgehoben. Schmunzelnd überlege ich, ob man sich hier wohl im Sommer nach dem Besuch der Messe erfrischen kann? Doch den Gedanken verwerfe ich gleich wieder. Zwar finde ich keinen konkreten Hinweis darauf, dass es verboten ist, aber es ist sicher besser, die Füße oder Hände nicht in das Wasser von öffentlichen Brunnen zu halten, und vom Baden sollte man wohl ganz absehen.
Außerdem erfahre ich, dass wir ohnehin „auf Wasser stehen“, denn unter uns fließt der Wienfluss. Diesen hat der Architekt Otto Wagner vom Karlsplatz bis zur Kettenbrückengasse überwölben lassen. So gesehen stehe ich auf einem Fluss.
Barrierefreiheit im Wien Museum garantiert
Wir kommen zu einem weiteren Gebäude, das mir ausnahmsweise unauffällig erscheint. Meine Begleiterin, die sich hier wirklich gut auskennt, gibt mir die Information, dass wir vor dem neu eröffneten Wien Museum stehen, das sich ganz der Geschichte Wiens widmet. Ich bin so neugierig, dass wir kurzerhand beschließen, das Museum zu besuchen.
Thematisch trifft die Ausstellung genau meinen Geschmack und ich erfahre viel über das Leben im alten Wien, was natürlich nicht heißen soll, dass es für jeden und jede etwas ist. Zudem sind die meisten Informationen auch in Blindenschrift geschrieben. So ist das Museum zumindest für Menschen, die schlecht oder gar nicht sehen können, barrierefrei.
Mehr Gras als erwartet
Nach diesem Ausflug in die Geschichte Wiens möchte ich nun endlich wissen, woher das Kindergeschrei kommt. Neugierig verlasse ich das Wien Museum und nähere mich der Geräuschkulisse. Dabei bemerke ich, dass wir auf einen Park zusteuern. Dort angekommen erkenne ich eine Schaukel und ein Karussell. Gleich hinter dem Spielplatz ist auch ein Fußballfeld.
Offen gestanden ist das eine größere Grünfläche, als ich sie am Karlsplatz vermutet hätte. Da fällt mir plötzlich ein, wann ich schon einmal hier war. Ich war vergangenen Juli beim Popfest. Und damals saß ich nicht auf der harten Straße, sondern gemütlich mit einer Picknickdecke im Park. Also nehme ich an, dass das Popfest in dieser Ecke des Karlsplatzes stattgefunden hat.
Ein paar Schritte weiter stehen wir plötzlich vor – nein, besser gesagt auf – Wegweisern. Diese liegen nämlich auf dem Boden und zeigen in etwa an, in welche Richtung man gehen muss, um zum Wien Museum zu gelangen. Da ich die Schilder mit meinem Blindenstock nicht ertasten kann, überlege ich mir, dass man die Schilder ja mit Braille beschriften könnte. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sich jemand freiwillig auf den Boden setzt, um die Buchstaben zu lesen. Man stelle sich nur vor, dass es vorher stark geregnet hat. Nein danke! Also verwerfe ich den Gedanken schnell wieder. Nicht alles, denke ich schmunzelnd, kann man in Brailleschrift anschreiben.
Otto Wagner hat recht
Am Ende meines Besuches am Karlsplatz stelle ich fest, dass dieser viel größer und vielfältiger ist, als ich mir vorgestellt habe. Man kann sich in den verschiedenen Kulturstätten weiterbilden und auch die TU Wien befindet sich direkt am Karlsplatz. Außerdem gibt es viele Grünflächen, die an einem Sommerabend zum Chillen einladen. Ich finde, Otto Wagner hat recht, wenn er sagt: „Der Karlsplatz ist kein Platz, sondern eine Gegend“.
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