Fortsetzung: Vertrieben (39)

Foto: Bayrischer Rundfunk

Die wahre Geschichte eines kleinen Mädchens

Autorin: U. Hillesheim ©

Muttl klagt immer wieder über den dichten und feinen Staub beim Dreschen, den man einatmet und gegen den man sich nicht schützen kann. Eines Abends kommt sie mit furchtbaren Kopfschmerzen ins Lager zurück. „Sicher vom Staub“, meint sie. Doch der Schmerz vergeht nicht, sondern wird stärker und stärker. So matt fühlt sich Muttl, dass sie sich hinlegen muss. Am nächsten Tag zur Arbeit zu gehen, das ist unmöglich. Bald kommt Fieber auf, hohes Fieber. Muttl wird ganz apathisch, liegt ständig auf ihrem Strohsack und kann kaum noch aufstehen. Wir Kinder bringen ihr das Essen. Die grausamen Kopfschmerzen dauern an. „Das ist das Allerschlimmste“, stöhnt Muttl.

Bald erkranken auch andere Frauen, immer mehr werden es und schließlich gibt es in unserem Raum keinen Erwachsenen, der nicht krank auf dem Strohsack liegt. Die Kinder dagegen bleiben alle verschont. Was ist das für eine Krankheit? Bald wissen wir es. Eine Seuche hat uns erfasst, Flecktyphus (Hungertyphus, Fleckfieber) hat uns befallen. Die Kleiderläuse, von denen es wimmelt, haben die Seuche übertragen. Die Strohsäcke, in denen sie stecken und über die wir uns ahnungslos gefreut haben, sind uns zum Unheil geworden.

Kein Medikament lindert die Krankheit. Alle Schmerzen und alle Beschwerden müssen die Kranken hilflos bis ins Letzte durchleiden. Als Einzige hat Muttl ein Fieberthermometer mitgenommen. Das geht jetzt reihum. Muttl misst bei sich 40,7°C und wird nur noch von Frau Tschnassni mit 40,9°C übertroffen. Da steigt eine furchtbare Angst in mir auf, dass sie sterben könnte. Mit 41°C Fieber stirbt ein Mensch, hat man mir immer gesagt und nun ist Muttl nahe dran. Inständig habe ich damals gebetet. Was hätten wir ohne Muttl anfangen sollen? Wir wären völlig allein gewesen. Obwohl sich Muttl nicht mehr um uns kümmern kann, empfinden wir sie dennoch als Schutz und Halt.

Ein Befehl wird erlassen. Alle Jungen über zwei Jahre hätten sich einzufinden, damit ihnen die Haare geschoren werden. Wegen der vielen Kopfläuse im Lager? Aber da hätten doch Frauen und Mädchen ihr langes Haar eher verlieren müssen. Ich glaube, dass es sich nur um eine Schikane handelt und dass das männliche Geschlecht gedemütigt werden sollte. Auch den fünfjährigen Viktor trifft das Scheren der Haare, zu dem sich die Jungen in einer Reihe aufstellen müssen. Ich sehe noch Viktors ängstliches Gesichtlein vor mir, als sein schönes weißblondes Haar fällt. Danach sehen die Jungen alle wie Sträflinge aus. Das war wohl beabsichtigt.

Tatsächlich gibt es im Lager außer den Kleiderläusen (wir sagen Haderläuse) auch überall Kopfläuse. Bei solchen, die nicht darauf achten, sogar überaus zahlreich. So habe ich einmal Frau Oertl beim Kämmen ihrer Friedlinde heimlich beobachtet. Die Läuse sind aus dem Haar nur so heraus gerieselt. „Eins, zwei, drei……35, 36, 37….“hat die Mutter gezählt und sie zerknackt.

Friedlinde war eine Klassenkameradin von uns. Immer war sie sehr dick, doch nun ist sie dünn geworden. Die seit jeher sehr schlanke Frau Oertl aber ist zum Skelett abgemagert und sieht erschreckend aus. (Bald nach der Entlassung aus dem Lager ist sie gestorben, ebenso ihr Mann, Notar Oertl. Ihre beiden Kinder sind Waisen geworden.)

Dass sich nach Wochen im Lager einiges bessert, hat die schwer kranke Muttl wahrscheinlich kaum mitbekommen. Obwohl viel darüber geredet wird, habe ich die Umstände nicht richtig erfasst. Offenbar hat ein einflussreicher anständiger Tscheche es nicht weiter mit ansehen können, wie die deutschen Kinder dahin vegetieren. So gibt es auf einmal Milch für die Kinder: ¼ Liter Vollmilch für die noch nicht sechsjährigen, ¼ Liter Magermilch für die 6- bis 10-jährigen Kinder. So bekommen auch Viktor und wir nun täglich unsere Milch. Wie zum Essenausteilen müssen wir uns in einer langen Reihe anstellen. Abgemessen wird der Viertelliter mit einem weißen Emailmaß, das Muttl herleiht. Es war das einzige Maß, das aufzutreiben war. Und ich bin stolz, dass gerade wir es beisteuern konnten.

Dass die Lage in Stefanau im Gegensatz zu Hodulein vergleichsweise menschlich war (die Haferschleimspende während der Durchfallerkrankungen und nun die Milchspende) haben Adelheid und ich auch erfahren:

Wir sind im hinteren Lagerteil, wo unter freiem Himmel die Pumpe steht. Wahrscheinlich haben wir gerade das Geschirr abgewaschen. Das Männerlager und die Kommandantur liegen dort in der Nähe. Da winkt uns der Kommandant aus dem Fenster. Furchtbar erschrocken gehen wir hin. Was will er von uns? Am Fensterbrett steht ein Teller mit Suppe und ein Teller mit einem Knödel in einer Art Marmeladesoße. Nach deutschen Worten suchend deutet er auf die Teller: „Halb, halb“. Wir sollen uns das Essen offenbar teilen. Wie stumm stehen wir da, wagen nicht, Freude oder Bewegung zu zeigen. Essen mit steinerner Miene, sagen „Dekuji“ (Danke) und rennen davon. Erst als wir außer Sichtweite sind, springen wir hoch und jubeln und erzählen Muttl unser Erlebnis.

Noch eine andere schöne Begebenheit ist mir in der Erinnerung geblieben. Ins Lager kommt ein mit Strohballen hochbeladener Pferdewagen. Plötzlich beugt sich einer der Fuhrleute zu mir und schenkt mir einen Federhalter, wie sie damals für Schreibfedern üblich waren. Schön ist er, rot mit silberner Halterung. Ich bin sprachlos, dass mir ein Tscheche etwas geschenkt hat! (Diesen Federhalter habe ich wie ein Kleinod gehütet und bei der Aussiedelung mitgenommen. In Kesselbach besaß ich ihn noch lange, dann ging er leider doch noch verloren. Vielleicht beim Umzug ins neue Haus? Das bedauere ich immer noch.)

Fortsetzung folgt

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