Der Wiener Kongress aus Expertensicht

Univ.-Prof. Dr. Brigitte Mazohls, Institut für Geschichte, Universität Innsbruck Forschungsschwerpunkte liegen im Rahmen der österreichischen, deutschen und italienischen Geschichte in der Zeit zwischen dem 18. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg und betreffen insbesondere Fragen von Recht, Verwaltung und Politik, von Herrschaft und Kommunikation. | Foto: privat
  • Univ.-Prof. Dr. Brigitte Mazohls, Institut für Geschichte, Universität Innsbruck Forschungsschwerpunkte liegen im Rahmen der österreichischen, deutschen und italienischen Geschichte in der Zeit zwischen dem 18. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg und betreffen insbesondere Fragen von Recht, Verwaltung und Politik, von Herrschaft und Kommunikation.
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Link: Verhandlungen im Walzertakt – Das war der Wiener Kongress 1814-1815

Wer hätte gedacht, dass vieles aus der Zeit des Wiener Kongress heute noch wirksam ist und unsere Wahrnehmung bestimmt?
Ich nicht, bis ich mit Frau Dr. Mazohl vom Institut für Geschichte Innsbruck, einer namhaften Expertin für die europäische Geschichte des 18. und 19. Jahrhundert, das untenstehende Interview führte. Spannend fand ich die Erkenntnis, dass die politische Landkarte Europas, wie wir sie heute kennen, in großen Linien damals und nicht erst durch die Weltkriege gezeichnet wurde. Die für uns fast unverzichtbare Vorstellung, dass der Nationalstaat eine Selbstverständlichkeit ist, wurzelt auch in dieser Zeit.

Für das ‚Heute‘ regt Frau Dr. Mazohl an, den in die Tage gekommenen Nationsbegriff in Frage zu stellen und uns unserer gemeinsamen europäischen Identität bewusst zu werden. Aber lesen Sie selbst:

Was waren die wichtigsten Faktoren, die dazu beitrugen, dass die Neuordnung Europas im Wiener Kongress und damit der Frieden in Europa gelang?

Die vier wichtigsten Faktoren für das Gelingen der Verhandlungen waren:
Erstens saß Frankreich als gleichberechtigter Partner am Verhandlungstisch und nicht wie nach 1914, als die Siegermächte ohne Hinzuziehung der Verlierer verhandelt haben. Die Grundhaltung, die die Verhandlungen im Wiener Kongress prägte, war, dass alle einen gemeinsamen Frieden brauchen.
Weiters gehörten alle Politiker am Kongress einer Generation an, die ganz im Denken des Gleichgewichts der Mächte sozialisiert wurde. Es ging um ein gesamteuropäisches Gleichgewicht, wo die wichtigsten Mächte England, Preußen, Frankreich, Österreich und Russland einigermaßen zufrieden mit der ausbalancierten Macht sein konnten. Die sogenannte ‚Balance of power‘, aus dem 18. Jahrhundert ererbt, war hier noch sehr stark wirksam und hat bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhundert ein gewisses Gleichgewicht und Frieden ermöglicht.
Drittens verband alle Verhandlungspartner eine antirevolutionäre Grundhaltung und eine unglaubliche Friedenssehnsucht . So wurde auch vereinbart, wo immer revolutionäre Unruhen ausbrechen würden, war man gegenseitig berechtigt zu intervenieren.
Der vierte wesentliche Faktor zum Gelingen und Stabilisieren des Friedens war die Einrichtung einer übergeordneten, friedenssichernden Instanz, die über den Einzelinteressen steht. So verständigte man sich, dass, wo auch immer es zu Konflikten kommt, die Länder in gemeinsamen Kongressen zu gemeinsame Lösungen kommen wollen. Die Einführung der Kongresse zur Friedenssicherung hat lange überdauert, der letzte war der Berliner Kongress 1878. Diese Idee der übergeordneten, friedenssichernden Instanz wurde nach dem 1. Weltkrieg durch den Völkerbund verwirklicht, heute sind es die Vereinten Nationen.

Was waren hinderliche Faktoren für die europäische Verständigung?

Ein negativer Faktor war, dass es offene Konfliktherde gegeben hat, die in den Verhandlungen nicht gelöst wurden wie die polnische Frage (für Polen ist immer noch der Wiener Kongress die eigentliche Urkatastrophe) und die italienische Frage. Auch auf dem Balkan war es ebenfalls aufgrund nationaler Bestrebungen und der Zurückdrängung des osmanischen Reiches schon klar, dass es hier Unruhen geben wird. Diese bestehenden Konfliktherde wurden nicht bereinigt.

Hinderlich für den Frieden war zudem, dass die einflussreichen Macher am Wiener Kongress die Sprengkraft des werdenden Nationalismus unterschätzt haben, da sie einer Generation des ‚Ancien Régime‘ und der aristokratischen Oberschicht angehörten, die allesamt nicht nationalistisch dachten. Aus dem Nationalismus heraus ist die Konfliktsituation des späteren 19. Jahrhunderts entstanden: nach dem Kongress gab es weder einen deutschen Einheitsstaat noch einen italienischen Einheitsstaat.

Ein weiteres, wesentliches Handicap für die Entwicklung des Friedens in Europa war die mangelnde Möglichkeit der politischen Partizipation der Bürger. Durch die Entwicklungen der französischen Revolution war deutlich geworden, dass immer mehr gesellschaftliche Gruppen nach Mitsprache verlangen. Dafür wurde in Frankreich eine Verfassung ausgearbeitet, die politische Partizipation regeln sollte. In den Gebieten des ehemaligen römischen deutschen Reiches, in Österreich, Italien war es strukturell schwierig, wie eine Verfassung und für welchen Raum ausgearbeitet werden sollte.
Metternich hatte vorausgesehen, dass wenn man eine gesamtösterreichische Nationalrepräsentation will, dann wird das Nationalitätenproblem im Land aufbrechen. Deshalb war er massiv dagegen und unterstützte die föderative Struktur gemäß dem alten Recht.

Was wirkt nach? Gibt es immer noch Bilder in den Köpfen der Menschen aus dieser Zeit?

Die politische Landkarte Europas, so wie wir sie heute kennen, ist so, wie sie damals gezeichnet wurde. Wir stehen - trotz Weltkriegen – in der Tradition Europas, wie es damals geschaffen wurde.
Aus dieser Zeit haben wir – ohne das weiter zu hinterfragen - die Vorstellung ererbt, dass der Nationalstaat eine Selbstverständlichkeit ist.

Das Denken in Nationalstaatskategorien möglichst auch noch ethnisch homogen ist damals entstanden. War aber letzten Endes für die damalige Zeit nicht zutreffend und für heute schon überhaupt nicht. Wir haben im Lauf der Geschichte des 19. Jahrhundert gelernt, Nationalstaaten als unverzichtbare Kategorie anzusehen.

Können wir für die heutigen Entwicklungen in Europa Erfahrungen aus der Zeit des Wiener Kongresses mitnehmen?

Wir haben eine gemeinsame europäische Geschichte und es ist höchst an der Zeit, dass wir auch ein gemeinsames, europäisches Geschichtsbewusstsein entwickeln und uns auf eine gemeinsame, europäische Identität besinnen.
Zu lernen, dass die Entwicklung hin zu den Nationalstaaten nicht unbedingt die allerbeste war. Wenn man sich die Entwicklung auf dem Balkan in den 90er Jahren anschaut, ist es immer dieses Modell der ethnisch homogenen Nationalstaatsidee, das zu Kriegen führt. Diese Idee ist aber nicht aus den Köpfen zu kriegen, obwohl jahrhundertelang die Kategorie Nation keine Rolle gespielt hat.

Ich halte es daher für zentral, den Nationsbegriff in Frage zu stellen und uns unserer gemeinsamen Identität in Europa bewusst zu werden.
Außerdem gibt es weiterhin die Notwendigkeit eine übergeordnete, friedenssichernde Instanz zu stärken und zu sichern. Immer wenn so eine Instanz nicht funktioniert und entfesselt die Einzelinteressen loslegen können, ist das von Übel.

Das Gespräch führte Josefa Molitor-Ruckenbauer

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