Der Frust, hier nicht willkommen zu sein
Nach Gewaltserie in St. Pölten: Sozialarbeiterinnen im Gespräch über Orientierungslosigkeit, die Bahnhofswache und Macht.
ST. PÖLTEN (jg). Ein mittlerweile 15-Jähriger wegen Terrorismusverdacht in U-Haft, Messerstecherei zwischen zwei 16-jährigen Mädchen, Jugendliche mit einer Schreckschusspistole und nun ein 21-Jähriger, der einen Mann ins Krankenhaus geprügelt haben soll – Was ist los mit der Jugend in St. Pölten? Susanne Fuhs von der Mobilen Jugendarbeit Nordrand und Barbara Obernigg, Leiterin des Jugendzentrums Steppenwolf, geben Antworten.
Fuhs: "Die gewalttätigen Ausschreitungen sind nicht zu verharmlosen. Man kann die Vorfälle aber nicht pauschalisieren, also sagen, die Jugend in St. Pölten ist per se gewalttätig."
Obernigg: "Auffallen ist eine Möglichkeit, um um Hilfe zu schreien. In unserer Zeit ist es aber immer schwieriger, aufzufallen. Dann gibt es so etwas wie den Pop-Dschihadismus, der eine Faszination auslöst und eine Chance darstellt, Aufmerksamkeit zu erhalten."
Warum geht Buhlen um Aufmerksamkeit mit Gewalt einher?
Fuhs: "Ich würde es als Orientierungslosigkeit bezeichnen. Aus dieser heraus ergibt sich Hoffnungslosigkeit, die letztlich in Gewalt zum Ausdruck kommt."
Obernigg: "Wenn ich den Fernseher einschalte oder die Zeitung aufmache, ist Krieg und Gewalt einfach präsent. Damit wird auch eine Hemmschwelle abgebaut, man wird abgestumpfter und muss härtere Taten setzen, um aufzufallen."
Inwiefern sind Jugendliche orientierungslos?
Fuhs: "Man muss sich entscheiden: Will ich weiter in die Schule gehen, will ich eine Ausbildung machen?"
Ist es heute schwieriger sich zu orientieren als vor 20 Jahren?
Obernigg: "Ja."
Warum?
Obernigg: "Weil die familiären Strukturen anders sind: Es gibt mehr Single-Familien, es müssen beide Eltern arbeiten gehen, um einen Lebensstandard zu erhalten. Aus diesem Grund sind Jugendliche mehr auf sich gestellt."
Mit welchen Problemen kommen Jugendliche zu Ihnen?
Fuhs: "Ich brauche einen Job, das ist oft der Einstieg. In Gesprächen kommen wir dann schnell drauf, dass da im Vorfeld noch einiges zu tun ist."
Obernigg: "Obdachlosigkeit und Mindestsicherung ist ein großes Thema. Dann familiäre und fremdenrechtliche Problematiken."
Diskriminierung?
Obernigg: "Aufgrund diskriminierender Erfahrungen wird schnell darauf geschlossen, dass man nur auf Probleme stößt, weil man kein Österreicher ist. Diese Stigmatisierung ist heftig, weil viel Frust damit verbunden ist, hier nicht willkommen zu sein."
Fuhs: "Man darf nicht unterschätzen, dass jetzige Flüchtlinge in erster Generation kommen. Die müssen ihre Kultur erst mit vorhandenen Kulturen vermischen. So wie es in den 70er-Jahren mit den Gastarbeitern war."
Obernigg: "In jeder Gesellschaft braucht es jemanden als Sündenbock. Salopp formuliert: Die Türken sind in diesem System aufgestiegen. Jetzt gibt es quasi noch Schwächere."
Orientierungslosigkeit und Sündenbock-Dasein: Wie kann man Abhilfe schaffen?
Obernigg: "Es braucht ein Umfeld, in dem sich die Psyche von Jugendlichen gesund entfalten kann. Gibt es dies nicht, dann kann es eben zu Gewalt, zu Süchten oder zur Radikalisierung kommen."
Es scheint schwierig, ein derartiges Umfeld zu schaffen. Warum?
Fuhs: "Es geht hauptsächlich um Macht."
Obernigg: "Zum Beispiel am Bahnhof. Die erste Idee: Man setzt eine Wachstube hin. Die Polizei soll vertreiben. Das ist Macht. Wenn man Jugendlichen permanent Räume wegnimmt, in denen sie experimentieren und sich orientieren können, braucht man sich nicht wundern, wenn sie rebellieren. Sie haben sich den Bahnhof als Lebensraum ausgesucht. Stellt man ihnen dort Räumlichkeiten zur Verfügung, würde sich die Situation sofort verändern. Denn Jugendliche halten sich gerne dort auf, wo sie auch willkommen sind und auf Wertschätzung stoßen."
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