Theater als großes Spiegelbild

Da nimmt das Unheil bereits seinen Lauf: Andri (S. Gößner) erklärt seinen Pflegeeltern (J-H. Arnke, J. Wegener), dass er deren Tochter Barblin (L. Hörtnagl) heiraten möchte. | Foto: TLT
  • Da nimmt das Unheil bereits seinen Lauf: Andri (S. Gößner) erklärt seinen Pflegeeltern (J-H. Arnke, J. Wegener), dass er deren Tochter Barblin (L. Hörtnagl) heiraten möchte.
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  • hochgeladen von Christine Frei

Das Landestheater zeigt mit Andorra von Max Frisch eines der wichtigsten Stücke der deutschen Nachkriegsliteratur.

Es gibt Theatertexte, da möchte man jeden Satz einzeln für sich festhalten, weil sie so schonungslos wahrhaftig, so auf den Punkt genau geschrieben sind, dass einem beim Lesen ebenso wie beim Zuhören und Hineinfühlen in die jeweilige Szene, die jeweilige Figur der Mund offen bleibt und es einen schaudert dabei. „Andorra“ von Max Frisch ist so ein Text. Und ich kann Ihnen jetzt nur eines schreiben: sehen Sie sich dieses Stück an. Zugegeben: Das wird kein heiterer Abend, Sie werden im Gegenteil nachdenklich und vielleicht auch erschüttert hinausgehen. Weil man nach „Andorra“ weiß, dass es jederzeit wieder so sein könnte.

Simone de Beauvoir kam etwa um dieselbe Zeit wie Frisch zu einem ganz ähnlichen Ergebnis, als sie jenen großartig hellsichtigen Satz niederschrieb: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.“ Wie Frisch in Andorra zeigt, gilt dies nicht nur für die Geschlechtsidentität, es gilt für jede; und die damit verbundenen Zuschreibungen, Vorurteile und Stereotype verfehlen ihre Wirkung nicht. Zuletzt will Andri, den sein Vater aus Angst und Feigheit als jüdisches Findelkind ausgab, obwohl er eigentlich der heimlichen und verpönten Beziehung zu einer Schwarzen (also einer Feindin Andorras) entsprang, lieber Jude als gar nichts sein. Andri hat die jahrelangen Zuschreibungen also irgendwann selbst erfolgreich internalisiert. Frisch zeigt, was Vorurteile bewirken, wie sie uns letztlich sogar zu dem machen, was wir gar nicht sind. Und er rechnet ab mit den typisch menschlichen Verdrängungsmechanismen, wenn er die Mit-Täter jeweils an den Bühnenrand holt und sie allesamt erklären lässt, dass sie selbstverständlich keine Schuld am unheilvollen Verlauf hatten.

Frisch selbst meinte über Andorra: „Ich möchte keinen Hoffnungsstrahl am Ende, ich möchte vielmehr mit diesem Schrecken, ich möchte mit dem Schrei enden, wie skandalös Menschen mit Menschen umgehen.“ Dieses Ansinnen lösen Regisseur Harald Demmer und das Ensemble auf Punkt und Komma ein. Sergej Gößner spielt Andri mit so viel innerer Sensibilität und Überzeugungskraft, dass man ihm nur noch wie gebannt dabei zusehen kann, wie er sich die ihm auferlegte Identität Stück für Stück einverleibt. Doch auch alle anderen Darsteller/innen gehen ganz in ihren Rollen auf: Lisa Hörtnagl als zunächst liebende, dann verzweifelte, zuletzt wahnsinnig werdende Barblin, Jan-Hinnerk Arnke als Vater, der daran zugrunde gehen wird, dass er diese Geschichte in die Welt setzte, Janine Wegener als seine Ehefrau, die das alles sehr genau durchschaut, Antje Weiser als Senora, die es ebenfalls nicht wagt, Andri aufzuklären, Stefan Riedl als Pater, der Andri ermutigt, zu seinem Judentum zu stehen, Christoph Schlag als skrupelloser Soldat, der jedwede Macht umgehend missbraucht, Gerhard Kasal als geldgieriger verschlagener Wirt, Jan Schreiber als Tischler mit mehr als nur einem Brett vor dem Kopf, Andreas Wobig als Paradebeispiel jenes denkbeschränkten Akademikers, der Rassismus für Redefreiheit hält, Falk Seifert als idealtypischer Mitläufer, Eleonore Bürcher als jener Jemand, der immer nur hintenrum stichelt, zuletzt Michael Arnold als schweigender Idiot.

Wo: Tiroler Landestheater, Rennweg 2, 6020 Innsbruck auf Karte anzeigen
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