Kufsteins fragiles Flair

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Jeder Ort hat sein individuelles Flair. Dies ist unbestritten. Ebenso unbestritten ist, dass sich das Flair eines Ortes verändert. Manchmal ist diese Veränderung gewollt, manchmal passiert sie eher zufällig. Ob die Veränderung zum Positiven oder zum Negativen wahrgenommen wird, diese Einschätzung ist eine Frage der Perspektive. Man könnte auch sagen, sie liegt im Auge des Betrachters.

Und hier geraten konservative und progressive Positionen nicht selten in Konflikt darüber, was „schön“ ist und was nicht. Macht architektonische Einheitlichkeit „Schönheit“ aus oder der architektonische Kontrast? Hat architektonischer Verfall ästhetische Aspekte oder stört er die „Schönheit“ des allgemeinen Erscheinungsbildes und muss deshalb Neuem weichen? Und wo sieht man sich selbst in alle dem? Besteht man auf seinen Wurzeln? Ist man offen, sie gleichzeitig zu erhalten und ihre verändernde Entwicklung zuzulassen? Sind einem die eigenen Wurzeln unangenehm und will man sie ausmerzen um jeden Preis? Oder sind sie einem schlicht egal?

Geht man durch Kufstein des Sommers 2017, begegnet einem von alle dem ein bisschen: ein im Bau befindlicher Bahnhofsvorplatz, dessen großflächig plakatierter Entwurf in Architektur und Modell-Passanten die Illusion von Großstadt ausstrahlt; rechter Hand vor der Innbrücke eine schmale Promenade den Fluss aufwärts, die den Blick auf die flussseitige Säulenterrasse einer Jugendstilvilla freigibt (die bahnhofseitige Front derselben befindet sich in modernisierender Umgestaltung); der Weg über die Innbrücke, zwischen Touristen und vorbei an historischer Nepomukstatue hinauf zum Unteren Stadtplatz mit authentisch historischer Bausubstanz inklusive Festung und Rathaus rechter Hand und historisierender Fassade eines Kaufhauses mit englischem Namen („Kiss“) linker Hand; schließlich am oberen Ende des Unteren Stadtplatzes der Blick nach links auf das in Fertigstellung befindliche Kulturquartier, das ich für mich persönlich angesichts der strengen Linienführung seiner Fassade und den in die Höhe strebenden Proportionen Berlin, Potsdamer Platz getauft habe, weil es mich schlicht an denselben erinnert; dem gegenüber an zwei Seiten die traditionelle, gewachsene Architektur mitteleuropäischer Städte von mittlerer Größe.
Je nach Perspektive sieht man: Ein zu einem Mikrokosmos komprimiertes Makrokosmos der Stile, dessen Flair vom Kontrast lebt und der das Auge des Fotografen, des Zeichners und Malers lustvoll reizt, ebendiese Kontraste einzufangen – oder ein inhomogenes Stilwirrwarr, dem die Seele verloren gegangen ist. Es liegt im Auge des Betrachters eben.
Egal nun aber, wie man zu Altem und Neuem steht: Altes wie Neues hat seinen je eigenen Charme, und beides erzeugt Flair – wenn man es ihm erlaubt. Leider erlaubt man es ihm nicht immer – insbesondere dem Alten nicht. Ginge man nämlich weiter bergwärts und in nördlicher Richtung aus dem unmittelbaren Stadtkern hinaus, käme man zu Kufsteins alten Villen und alten Gärten. Einzelne davon könnten in der Toskana stehen: Die Farbe des Gebäudes ausgeblichen, der ein oder andere Riss im alten Gemäuer, neben dem Gebäude eine altehrwürdige Magnolie – bis vor kurzem ein Sujet wie auf alten italienischen Meistern. Einzelne erinnerten bis vor kurzem an die Lustgärten der Renaissance mit Marmorgöttinnen und kleinen Brunnen oder mit ihrem alten Baumbestand und dem urwüchsigen Unterholz an Urwälder im Kleinen, den das Frühjahr jedes Mal in ein Blumenmeer verwandelte (siehe Fotos).

Bis vor kurzem! Denn seit dem letzten Winter stellen Villa und Magnolie den Hintergrund (man hat fast den Eindruck, den störenden Hintergrund?) zu einer zweiseitigen staffeleiförmig montierten Werbefläche (siehe Foto). Aber zumindest gibt es Villa und Magnolie noch. Denn das andere alte Haus in imposant-urwüchsigem Garten ist inzwischen eingeebnet. Die so entstandene leere Fläche dient jetzt als Parkplatz (siehe Foto). Hoffnung besteht noch für den Renaissancegarten: Möge die Marmorgöttin nur vorübergehend den aktuellen Bauarbeiten am dazugehörigen Haus gewichen sein und der Garten nach Beendigung der Bauarbeiten wiederhergestellt werden, so wie ein anderer Villengarten in derselben Gegend, dessen Magnolien und Yuccas die Beeinträchtigungen durch die Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück überstanden, während die Fichten ihnen zum Opfer fielen.
Wie eingangs gesagt: Jeder Ort hat sein individuelles Flair, und Flair kann und darf sich verändern. Die Frage ist allerdings immer: Wohin soll der Weg führen? Was soll das Ziel sein? Denn, was Flair nicht verzeiht, ist Unachtsamkeit oder gar Leichtfertigkeit im Umgang mit vorhandenen Potentialen.
Flair ist fragil.

Veronika Bernard

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