80% Verlust an Biodiversität
Die ignorierte Katastrophe
Ein beeindruckender Vortrag des Biologen und Insektenspezialisten Fritz Gusenleitner im Aktivpark4222 führte am 15. September drastisch vor Augen, was angesichts von Corona, Krieg, Energie- und Klimakrise so gut wie nicht im Bewusstsein der Österreicher angekommen ist: "Das größte Artensterben seit dem Aus der Dinosaurier nach dem Meteoreinschlag vor 65 Millionen Jahren ist voll im Gange - und wird die Auswirkungen der Klimakrise zu Nebendarstellern degradieren, wenn wir nicht sofort handeln", so sein eindringlicher Appell.
ST.GEORGEN/GUSEN. Nein, es steht kein schwarzmalender Endzeitphilosoph, kein schriller Panikmacher am Pult: Fritz Gusenleitner, ehemaliger Leiter des Linzer Biologiezentrums, präsentiert nüchterne, wissenschaftlich belegte Zahlen und Daten. Erklärt, welche Wirtschaftsleistung durch verschwindenden Arten entfällt, stellt diesen Fakten vor Unwissen und Ignoranz strotzende Statements von Politikern und Kammerfunktionären gegenüber, zeigt inhaltlich bizarr verdrehte Darstellungen in Medien und auf Produktetiketten. Ein hochinformativer "Aufklärungsabend", der eigentlich den ganzen Aktivpark und nicht nur einen Seminarraum als Plenum verdient gehabt hätte.
Minus 80% Insekten in nur drei Jahrzehnten
67.000(!) Tier-, Pflanzen- und Pilzarten gibt es in Österreich, 75 Prozent der Fauna stellen die Insekten. Gerade einmal ein Prozent der Tiere sind Wirbeltiere, inklusive uns Menschen. Und dieses eine Prozent ist auf Gedeih und Verderb auf Insekten angewiesen. Alleine die jährliche Bestäubungsleistung, den Honigertrag noch gar nicht mitgerechnet, durch Bienen - die überwiegende Zahl davon sind wilde Arten - beträgt in Österreich 300 Millionen Euro, weltweit 153 Milliarden. In nur 30 Jahren sind 75 bis 80 Prozent der Insekten verschwunden. Das kann jeder selbst im Sommer auf seiner Windschutzscheibe beobachten, auf der nur mehr hie und da ein Exemplar sein Leben aushaucht. Mit den Insekten verlor Europa in der gleichen Zeit 421 Millionen Vögel und erlitt Milliardenschäden in der Landwirtschaft durch deren Entfall als biologische Schädlingsbekämpfer. Trauriges Detail zum Wissen darüber: Jeder zwölfte heimische Schüler zwischen 10 und 18 Jahren kann keinen einzigen(!) Vogel im Garten benennen, selbst bei den Lehrkräften muss immer öfter eine Handy-App herhalten, um gängige österreichische Tier- und Pflanzenarten zu identifizieren.
Wenig Wissen und kaum Bewusstsein vorhanden
83% der Österreicher würden eine Stärkung der Artenschutzmaßnahmen unterstützen. Doch kaum einer weiß darüber genug. Im Schulunterricht wird kein zusammenhängendes Bild vermittelt, bestenfalls einzelne Fragmente in verschiedenen Fächern. Bizarr muten Artikel in Medien der Landwirtschaftskammern an, wo etwa das Foto einer Maismonokultur im sanften Licht "die Schönheit Österreichs preist" und Fachartikel Tipps geben, "damit Futterwiesen nicht zu wertlosen Blumenwiesen werden" . Auf diesen Flächen sank seit 1992 die Zahl der Rebhühner um 89%, der Kiebitze um 88% und jene der Feldlerchen um 45%. Oberösterreichs Agrarlandesrätin spricht hingegen in einem Interview von einer stabilen Insektenpopulation in den letzten Jahrzehnten .
Oder wer würde einem unschuldigen heimischen Apfel aus konventioneller Produktion ansehen, dass er in 24 Wochen 31mal(!) mit Pestiziden behandelt wurde? Wem ist bewusst, dass diese vom Wind hochgewehten Gifte in den sensiblen Biotopen der Alpen ein Artensterben verursachen?
Ökowahnsinn: Krebsgifte in Laienhänden
Glyphosat beispielsweise, bei Hobbygärtnern als Roundup bekannt, ist nicht nur in jedem Bier sondern schon bei Neugeborenen nachweisbar und in Frankreich als Auslöser von Parkinson bei Bauern als Berufskrankheit anerkannt. Während Landwirte zumindest Basiswissen dazu erlernen, werden in vielen Gärten von völligen Laien bedenkenlos in jedem Baumarkt - oder noch schlimmer als Fälschung im Internet - erhältliche Giftcocktails versprüht. Die haben teils 18(!) Jahre Halbwertszeit und enthalten zur Anwendungsoptimierung weitere Gifte, die nicht einmal ein Zulassungsverfahren durchlaufen müssen. Die Kombination Wirkstoff - Beistoff erwies sich in Tests bis zu 1.000mal(!) giftiger als die namengebende Chemikalie am Etikett. Fast 13.000 Tonnen oft krebserregender Pestizide werden jährlich in Österreich ausgebracht, rund 1.500 davon ohne jegliche Schulung durch Hans und Susi in ihren geliebten Gärten! Der Mähroboter gibt den letzten überlebenden Blüten im Gras dann den Rest.
Viele Ursachen - jeder Einzelne muss mithelfen
Lichtverschmutzung, Bodenversiegelung, Monokulturen, Einschleppung fremder Arten... die Liste der Ursachen für den Aderlass an Ökovielfalt ist lang. Ebenso lang ist aber jene der Möglichkeiten, die jeder von uns zum Gegensteuern hat. Jeder, der auch nur ein paar Quadratmeter Fläche verfügbar hat, kann entscheiden, ob darauf steriler Rollrasen oder ein paar heimische Blumen oder Sträucher wachsen. Selbst einige Küchenkräuter im Blumenkisterl, die blühen dürfen, bilden bereits Überlebensinseln. Ebenso eine "wilde Ecke", wo etwa hinterm Komposthaufen ein paar Brennnesseln wachsen oder ein morscher Ast tausenden Insekten Wohnung und Nahrung bietet. Fritz Gusenleitner bringt es treffend auf den Punkt: "Wer Fläche besitzt, hat Verantwortung! Je größer desto mehr!"
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