Interview mit Alfried Längle
Gemütlich durch die Coronakrise
Alfried Längle ist Arzt, aber auch klinischer Psychologe und Psychotherapeut in Rudolfsheim-Fünfhaus.
WIEN/RUDOLFSHEIM-FÜNFHAUS. Alfried Längle wurde 1951 in Vorarlberg geboren und lebt seit Jahrzehnten in Wien. Der frühere Freund und Mitarbeiter Viktor Frankls ist Gründer der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. Nun feierte Längle, der auch an internationalen Universitäten lehrt, seinen 70. Geburtstag – mitten in der Coronakrise.
In der Krise haben viele Menschen einen Einkommensverlust erlitten oder sogar ihren Job verloren. Wie können sich die Betroffenen ihren Lebenssinn und Lebensmut trotzdem bewahren?
ALFRIED LÄNGLE: Nicht alleine zu sein, ist in dieser Situation das Wichtigste. Wer in ein Netz aus Familie und Freunden eingebunden ist und mit jemanden über Ängste und Nöte sprechen kann, tut sich in der Bewältigung der Krise viel leichter. Es ist aber auch sinnvoll, die Blickrichtung zu ändern: Anstatt sich zu fragen, was kriege ich dafür, wenn ich nun meine Arbeit verloren habe, sollte man sich fragen, was will das Leben gerade jetzt von mir?Wer weniger Geld hat, hat dafür vielleicht mehr Zeit, die etwa zum Treffen alter Freunde verwendet werden kann, für neue Hobbys oder Sport oder, um einfach durch die Stadt zu spazieren und Wien so ganz neu kennenzulernen. So merkt man schnell, dass es einem auch in dieser schwierigen Situation noch gut gehen kann. Auch die Telefonseelsorge und die Angebote des Psychosozialen Diensts kann man in Anspruch nehmen.
In der Coronakrise nehmen nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch soziale Spannungen zu. Dabei fühlen sich viele auch an die 1930er Jahre erinnert.
Eine Woge politischer und rassistischer Verblendung kann die Gesellschaft auch heute treffen. Wenn der Respekt voreinander verloren geht und Menschen auf Objekte reduziert werden - etwa nur als Arbeitnehmer - betritt man die Ebene unterhalb der Menschlichkeit. Dann ist immer alles möglich, denn der Mensch ist zu aggressiver Vernichtung immer fähig.
Was kann man konkret tun, damit sich die Geschehnisse von damals in Zukunft nicht wiederholen?
Gegensteuern kann man, indem der Wert des eigenen und des Lebens anderer Menschen immer im Bewusstsein bleibt und respektiert wird. Im Umgang mit Andersdenkenden oder neu Zugezogenen muss man sich der Verantwortung bewusst bleiben, dass man selbst und auch die anderen immer Menschen sind und auch bleiben. Dabei darf aber etwa aus falsch verstandener Selbstlosigkeit das eigene Österreichische nicht aufgegeben, sondern soll durchaus hochgehalten werden.
Wien war in der Geschichte immer ein besonders guter Boden für Psychoanalyse und auch Psychotherapie, Sigmund Freud war etwa Wiener. Ist das nur ein historischer Zufall oder gibt es dafür ganz bestimmte Gründe?
Wien war als Hauptstadt eines Vielvölkerstaates lange Zeit eine kulturelle Metropole Europas. Es gab aber immer auch soziale Spannungen und Neurotisches: Beides gemeinsam wurde zum fruchtbaren Boden für die Fähigkeit des Lyrischen und Künstlerischen, was dem Inneren des Menschen sehr nahekommt. Es ist kein Zufall, dass Wien keine Industrie- oder Technikstadt ist, sondern dass sich hier die Gemütlichkeit herausgebildet hat: Gemüt ist ja nur ein anderes Wort für die Psyche. Miteinander gut zu leben und auch die Seele baumeln zu lassen, waren und sind in Wien sehr wichtig.
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