Fortsetzung: Vertrieben (23)
Die wahre Geschichte eines kleinen Mädchens
Autorin: U. Hillesheim ©
An vieles, was Pfarrer Dietz schildert, kann ich mich sehr gut erinnern. Natürlich an den weißen Stofffleck mit dem „N“ und später die gelbe Armbinde. An die sich jagenden Befehle (Todesstrafe bei Nichtbefolgung), die ausgetrommelt wurden. Lebendig steht mir der Riesenhaufen verrostender Fahrräder im Pfarreihof vor Augen. Unter den Wertsachen war auch eine Briefmarkensammlung. Sie wurde einfach in Säcke gestopft, stand im Regen und die Marken verklebten. Später hat sie Fräulein Anita im Ofen bei den Tschechen verheizen müssen. Ich weiß noch gut, wie dies alle bedauerten.
Von den Folterungen habe ich nur eine miterlebt: Mit Fräulein Anita beschäftigen wir uns gerade in der Pfarreiküche. Da, von oben her, vom Zimmer der Gendarmen, Poltern und Schreien. Laute flehende Schreie: „Erschlagt mich doch, erschlagt mich doch“ (in Mohrauer Mundart). Wir erstarren. „Betet Kinder, betet“, flüstert Fräulein Anita. Wie es ausgeht, weiß ich nicht mehr.
Die Namen der Gendarmen kennen Adelheid und ich nicht, aber wir geben ihnen eigene Namen: Da ist der „Hübsche“, der Kommandant, ein junger, besonders fanatischer und gefürchteter Mann. Herr Pfarrer hat ihn später widerwillig getraut. Da gibt es den „Brummigen“ (mit den dunklen Bartstoppeln) und den „Netten“. Der Nette ist anständig (beteiligt er sich an den Plündereien und Raubzügen?). Er kann Geige spielen und öfters kommt er herunter in die Pfarreiküche und musiziert mit Herrn Pfarrer, dieser am Harmonium. Doch eines Tages ist der „Nette“ verschwunden. Man munkelt, er sei in ein Lager gebracht worden, weil er sich mit Deutschen zu sehr (auf anständige Weise) abgegeben habe.
Wir fürchten die Gendarmen. Deshalb erschrecken wir sehr, als sich eines Tages eins der Gendarmenfenster über dem Hof öffnet: „Pocem! Pocem“! (komm her, komm her) ruft einer der Männer. Er wirft uns ein kleines Päckchen herunter. Einige Kekse sind drin. Völlig verwirrt beschließen wir, die Kekse nicht zu essen sondern wir bringen sie als „Notvorrat“ in unser Hofversteck hinter den Planken.
In jenen Tagen muss Tante Rosi den Entschluss gefasst haben, nicht mehr in das Häusl zurück zu kehren, sondern neben Fräulein Anita als zweite Haushälterin im Pfarrhof zu bleiben. Und sie bleibt Pfarrer Dietzs Haushälterin zunächst mit Fräulein Anita zusammen, nach deren Tod (1951) aber allein bis an ihr Lebensende (1978).
Von allen Pfarreileuten habe ich Fräulein Anita am liebsten. Diese schlichte, herzensgute und dennoch energische Frau hat Pfarrer Dietz von seiner ersten Dienststelle aus dem Spieglitzer Bergland mit nach Mohrau gebracht. Nur sie erlaubt uns, beim Gemüseputzen Möhrenstücke und dergleichen zu knabbern. Wenn wir mit ihr zusammen auf der Ofenbank Strümpfe stopfen (auch für alle Gendarmen!), erzählt sie uns aus ihrer armseligen Kinderzeit. In Heimarbeit hat sie als Kind Zwirnknöpfe angefertigt und in der kalten Stube dabei beobachtet, wie die Eisblumen am Fenster wuchsen.
Fräulein Anita ist gegen jede Verschwendung. Von ihr stammt jener Spruch, der mich ziemlich beeindruckt hat: „Jedes Brotbröselchen, das man verwüstet (= verschwendet, engl. waste) muss man am Jüngsten Tag mit blutigen Augen suchen“. Ihre Anschauungen sind sehr konservativ, was auch nicht verwunderlich ist. Als wir an einem heißen Sommertag nur unser Spielhöschen anhaben, ist Fräulein Anita entrüstet. Es sei anstößig und unmoralisch, sich so halb nackt zu zeigen. „Aber es sind doch nur Kinder und es ist so heiß heute“. „Als Kind bin ich auch bei größter Hitze nur langärmelig angezogen gewesen und ich habe es ausgehalten“, entgegnet sie unwirsch. Frau Dürnberger findet das „blöd“ und wir beide sind sehr verunsichert.
Fortsetzung folgt
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