Fortsetzung: Vertrieben (10)

Foto: Bayrischer Rundfunk

Die wahre Geschichte eines kleinen Mädchens

Autorin: U. Hillesheim ©

Großmama

Zum letzten Mal besucht Roswitha im Januar 1945 unsere Großmama (Mutter von Mama+ und Tante Muz) in ihrer Troppauer Wohnung. Beide ahnen nicht, dass sie sich erst in Jahren in der Fremde wiedersehen werden. Bald wird Troppau evakuiert werden. Großmama gelangt bis in den Schönhengtsgau in die Gegend von Mährisch Trübau. Dort wird sie von den Russen überrollt und erlebt deren Einmarsch und all die schrecklichen Dinge, die damit verbunden waren (Vergewaltigungen, Plünderungen, Tötungen). Ihr selbst geschieht zum Glück nichts wirklich Schlimmes. Zu Fuß im Treck müssen die Evakuierten wieder nach Troppau zurück. Bei ihrer Rückkehr findet Großmama eine völlig verwüstete Wohnung vor. Tante Hildegard (Tochter ihrer Schwägerin und Mamas Cousine) versorgt sie hin und wieder mit Essen. Zu kaufen gibt es nichts mehr. Bei der verzweifelten Suche nach Essbarem gibt ein Bekannter Großmama Brot („weil sie immer so freundlich gewesen ist“). Davon ernährt sie sich in der ganzen folgenden Zeit.

Eines Nachts in der einsamen, leeren Wohnung – das hat sie mir später erzählt – erwacht sie von einem Geräusch: Tapp, Tapp, Tapp! Schritte sind draußen zu hören, unheimliche Schritte. Im Garten geht jemand auf den Glasspittern umher. Geht ein Russe umher? Ihr Herz verkrampft sich vor Angst. Da ist nichts, was ihn am Eindringen hindern könnte. Alle Türen sind zerschlagen, alle Fensterscheiben zerstört. Tapp, Tapp, Tapp – „Kommt er und entdeckt er mich gleich?“ Nein, die Schritte verklingen. Großmama atmet auf.

Bald darauf wird Großmama Opfer der „wilden Austreibungen“: Tschechen mit vorgehaltener Pistole zwingen sie aus der Wohnung. Sie muss die Wohnung fast augenblicklich verlassen. In ihrer Verwirrung greift sich Großmutter nur irgendetwas in ihrer Nähe, zum Überlegen bleibt keine Zeit. Sie nimmt das geschenkte Brot mit, eine Tasche, eine Strickjacke, Unterwäsche und einen Löffel. Scharen von Menschen werden in offenen Güterwagen zusammen gepfercht und an die Grenze ins Nichts geschickt. Es gibt keinen Plan, keine Verpflegung, keine Schutz vor Sonne und Regen. In den Wagen stehen die Leute so eng, dass kein Hinsetzen möglich ist. Aber dann findet Großmama doch einen Sitzplatz: Sie setzt sich auf eine Leiche.

Die Menschen sterben in Massen. Die Leichen werden einfach aus dem Zug geworfen. Großmama meinte, viele hätten irgendwo unterwegs verdorbenes Wasser getrunken. Alle hatten ja brennenden Durst. Großmama glaubte, dass sie nur deswegen gesund blieb, weil sie sich eisern beherrschte und trotz glühendem Durst fragwürdiges Wasser gemieden hat.

An der deutschen Grenze werden die Leute nicht eingelassen. Man will sie nicht haben in Deutschland. Doch die Tschechen schicken sie wieder zurück an die Grenze. Eine Irrfahrt beginnt. Von Thüringen geht es nach Sachsen, nach Brandenburg, nach Berlin, nach Mecklenburg….. Überall werden die Ausgetriebenen abgelehnt. Schließlich dürfen die Leute in Thüringen bleiben. Großmama kommt nach Großmehlra. Sie arbeitet dort bei Bauern (die Leute heißen „Markgraf“), bis 1947 Tante Muz die Ausreise nach Wels in Österreich ermöglichen kann.

Roswitha sieht Großmama Anfang der 50er Jahre wieder, als sie die Verwandten in Österreich erstmals besucht. Adelheid und ich besuchen die Josels (Tante Muz mit ihrer Familie) erstmals 1955, 11 Jahre nach dem letzten Zusammensein. Großmama ist inzwischen alt, wir Kinder aber sind erwachsen geworden.

Fortsetzung folgt

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